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Rutger Bregman über Krieg «Die Mehrheit der Soldaten kann keine Menschen erschiessen»

Die Gräuel im Ukrainekrieg zeichnen ein düsteres Menschenbild. Dennoch hält der Historiker Rutger Bregman den Menschen grundsätzlich für hilfsbereit und liebenswürdig. Warum?

«Meine These muss Zweifel wecken», gibt Bregman zu. Denn der Historiker widerspricht der landläufigen Meinung vom böswilligen Menschen und sagt, der Mensch sei «im Grunde gut».

Angesichts der Tötungswut, den Vergewaltigungen und Vertreibungen im Ukraine-Krieg muten solche Aussagen realitätsfern an. Der Krieg scheint die tief verankerte, bösartige Natur des Menschen hervorzubringen.

Ist der Mensch «im Grunde gut»?

Das negative Menschenbild ist seit der Antike vorherrschend. Bregman nennt das Christentum, das jeden Menschen zum Sünder erkläre. Auch die Aufklärung verstehe nur zivilisierte Menschen als gutartig. Beispielsweise schrieb der Philosoph Thomas Hobbes , dass im Naturzustand jeder Mensch gewaltbereit um sein Leben kämpfe.

Rutger Bregman, der realistische Utopist

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Der niederländische Historiker Rutger Bregman, Jahrgang 1988, schreibt über radikale Ideen, die überraschend einfach umzusetzen wären. Berühmtheit erlangte er 2019, als er am World Economic Forum in Davos eine spontane Rede hielt, die Anwesenden sollten lieber Steuern zahlen als über Philanthropie zu reden.

Bregmans erster Bestseller «Utopien für Realisten» (Rowohlt, 2017) argumentiert, wie eine 15-Stunden-Woche, ein bedingungsloses Grundeinkommen sowie offene Grenzen möglich wären. Der Historiker zeigt, dass was heute undenkbar erscheint, früher Realität war.

2020 erschien «Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit» (Rowohlt). Darin stellt sich der Niederländer klar gegen die landläufige Meinung, der Mensch sei egoistisch und brutal – vielmehr zeige die Geschichte die Gutartigkeit und Freundlichkeit des Menschen.

Dem kann Bregman nichts abgewinnen. Sein Buch «Im Grunde gut» beruft sich auf neuere Erkenntnisse aus der Archäologie, der Anthropologie und anderen Wissenschaften: Menschen sei evolutionär dazu bestimmt, freundlich zu sein und zu kooperieren. Egoismus habe die Menschen in der Steinzeit nirgendwo hingebracht.

Das heisse nicht, dass alle Menschen immer und ausnahmslos gut handeln – doch «im Grunde» sei der Mensch gut. Immerhin wären Fortschritt und Gesellschaften ohne Freundlichkeit und Kooperation niemals möglich gewesen.

Auch Soldaten handeln gut

Kann Bregmans These auch im Ukraine-Krieg stimmen? Er bejaht. «Die grosse Mehrheit der Soldaten kann keine Menschen erschiessen. Zumindest zu Beginn nicht.» Deshalb übe jede Militärführung immer viel Druck aus und indoktriniere ihre Soldaten.

So haben Auswertungen gezeigt, dass in Kriegen eine Mehrheit der Soldaten bewusst danebenschiesst. Auch gut ausgebildete Soldaten wollen ihre Waffen nicht gegen andere Menschen nutzen. Brutal werden Soldaten nicht aus Lust an der Gewalt, sondern wenn sie damit weitere Gewalt abzuwenden glauben – also mit dem Ziel, Gutes zu tun.

Macht korrumpiert

Und was ist mit Gräuel wie dem Massaker von Butscha? «Die schlimmsten Taten werden von Menschen begangen, die im Grunde gut sind. Das schockiert», so Bregman. Es sei Macht, die Menschen dazu anstifte, grausam zu werden.

Und wie alle Menschen möchten auch Soldaten gemocht werden – das Verlangen nach Anerkennung lässt uns alle konformistisch werden. So werden Befehle befolgt, auch wenn man sie nicht unterstützt.

Die Umstände entscheiden

Bregman möchte die zahlreichen Grausamkeiten in der menschlichen Geschichte nicht entschuldigen. Vielmehr will er zeigen, dass wir nicht die menschliche Natur für Böses verantwortlich machen sollten – sondern die Umstände, die Böses befördern.

Der Niederländer spricht von einem «Nocebo-Effekt»: Im Gegensatz zu Placebo ist damit gemeint, dass wir krank werden, wenn wir krank zu werden glauben. Gleich verhalte es sich unter Menschen: Wer von seinem Gegenüber Schlimmes erwarte, erfahre es auch so.

So werde jedes Menschenbild zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Damit der Mensch besser wird, möchte Bregman die Geschichte hoffnungsvoll erzählen.

Ein optimistischer Blick

Für diese hoffnungsstiftende Aufgabe gäbe es genug Anlass. Seit Ausbruch des Kriegs solidarisieren sich weltweit Millionen von Menschen mit der ukrainischen Bevölkerung und der russischen Opposition.

Diese Solidarität erfordert aber auch, dass genau hingeschaut wird und Ereignisse nicht beschönigt werden. Denn «im Grunde gut» sein muss auch bedeuten, die Umstände zu verändern, die Gräuel ermöglichen.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 17.04.2022, 11:00

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