Barbara Achermann ist entsetzt, wie vor knapp 25 Jahren ein Genozid in Ruanda geschehen konnte. Aber sie ist beeindruckt, was Frauen in dem kleinen Land zwischen Kongo und Tansania seither geleistet haben.
Nach dem Genozid: Frauen packen an
Viele Männer waren tot, das Schicksal des Landes hing an den Frauen. Sie ergriffen die Initiative, obwohl selbst tief traumatisiert. Sie übernahmen Ämter, wurden Unternehmerinnen, Politikerinnen, Aktivistinnen.
So entstand das «Frauenwunderland Ruanda». Das Land, das mehr Frauen im Parlament hat als jedes andere Land auf der Welt.
Barbara Achermann porträtiert Frauen als gesellschaftliche und wirtschaftliche Stützen des Landes. Sie begeistert auch mit Geschichten aus dem prallen Leben.
Kunyaza – eine Sexualpraktik aus Ruanda
Man erfährt zum Beispiel, was Kunyaza ist: eine traditionelle Sexualpraktik. Expertin hierfür ist Vestine Dusabe. Sie ist Ruandas «Doktor Sommer».
Im Radio spricht sie über Sex, die Liebe und das Leben. Kunyaza bedeutet wörtlich übersetzt: die Frau «zum Pinkeln zu bringen». Es ist Thema in Liedern, Gedichten und in der indigenen Mythologie.
Natürlich solle die Frau feucht werden und im Bett Spass haben, berichtet Vestine Dusabe. Sie solle sich aber auch wertgeschätzt fühlen und zum Höhepunkt kommen.
«Frauenwunderland» übertreibt
Nimmt man Achermanns «Frauenwunderland» statt eines Reiseführers nach Ruanda mit, erhält man ein Gefühl für Land und Leute. Man erfährt etwas über Chancen, Sorgen und Hoffnungen der Bewohner des Landes.
Doch bisweilen wird der Buchtitel zum Verhängnis. So sehr «Frauenwunderland» beeindruckt: Wundergeschichten brauchen Übertreibungen. Menschen in der Hauptstadt Kigali berichten auch: Ruanda sei ein Land der Fassaden. Mehr Schein als Sein.
Sexologin lehnt Homosexualität ab
So fortschrittlich es zum Beispiel tönt, dass eine Frau im Radio Sexualität enttabuisiert und den sexuellen Notstand der Frauen beenden will – die Moderatorin und Sexologin Vestine Dusabe hat zum Teil krude Ansichten.
Selbstbefriedigung lehnt sie ab. «Masturbation führt dazu, dass Männer zu früh kommen. Der Penis wird durchs Handanlegen kleiner oder sie verlieren gar ihr bestes Stück.»
Homosexualität hält die Sexologin für eine Krankheit, für die sie Therapien anbietet. Aus aufgeklärter Sicht eine homophobe Haltung, mit der Barbara Achermann die Sexologin nicht konfrontiert.
Zwei Seiten der Flüchtlingspolitik
Die Autorin schreibt: «Ruanda gilt als beispielhaft für seine Flüchtlingspolitik, das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen UNHCR nennt sie gar eine der vorbildlichsten weltweit, weil Asylsuchende in Ruanda arbeiten, studieren und sich frei bewegen dürfen.» Diese positive Einschätzung mag für einige Flüchtlinge zutreffen – nicht aber für die, die in den vielen Camps ausharren.
Etwa Flüchtlinge aus dem Kongo, die seit knapp 20 Jahren keine Perspektive haben. Arbeiten dürfen sie nicht, die Papiere fehlen. Erst vor ein paar Wochen demonstrierten sie gegen die unwürdigen Bedingungen – mit blutigen Folgen: Ruandische Beamte erschossen protestierende Flüchtlinge.
Die kritischen Stimmen
Afrika als Erfolgsgeschichte: Das beherrscht Barbara Achermann perfekt, auch wenn kritische Hinweise auf die autoritäre Regierung nicht fehlen. «Präsident Kagame ist ein Autokrat, seine RPF-Partei dominiert die politische Landschaft, jegliche Opposition wird schon im Keim erstickt.»
Auch die These vom «Frauenwunderland» wird im Buch von der anderen Seite beleuchtet. Der Völkerrechtler Gerd Hankel sagt an die Autorin gewandt: «Ich teile Ihren Optimismus nicht. Eine (formale) Gleichberechtigung ohne Achtung der Menschen- und Grundrechte ist keine Gleichberechtigung. Es ist insofern egal, ob die Marionetten männlich oder weiblich sind.»
«Frauenwunderland» macht am Ende viel Lust auf Ruanda, es ist gut und flott geschrieben. Und wenn man sich nach Ruanda aufmacht, um sich sein eigenes Bild vom Land der tausend Hügel zu machen, dann ist das durchaus im Sinne der Autorin.
Dieser Artikel wurde am 29.3.2018 in folgenden Punkten überarbeitet:
- Der Vorwurf, dass Schattenseiten der Sexologin Vestine Dusabe im Buch nicht benannt würden, ist unrichtig und wurde entfernt.
- Die Aussage der Autorin über Ruanda als Vorbild in der Flüchtlingspolitik wurde ergänzt mit dem UNHCR als Quelle für diese Einschätzung.
- Der Artikel wurde mit zwei Absätzen ergänzt, die auch die kritische Haltung der Autorin gegenüber den Zuständen in Ruanda wiedergeben. Diese kritische Einordung durch die Autorin wurde in der ersten Version des Artikels nicht angeführt.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 21.3.2018, 7:20 Uhr