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Teresa Bücker fordert einen radikal neuen Umgang mit Zeit.
Aus Kultur-Talk vom 19.10.2022. Bild: IMAGO / Shotshop
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Sachbuch über Zeitkultur «Zeit ist eine Ressource, um die wir kämpfen müssen»

Zeit müsse gerechter verteilt werden, schreibt die deutsche Journalistin Teresa Bücker in ihrem Buch «Alle Zeit – eine Frage von Macht und Freiheit». Höchste Zeit, über Zeit zu reden.

Zeit ist in der Kindheit noch wie ein Meer. Später wird sie zu einer Badewanne, in die wir kaum hineinpassen. Mit dieser Umschreibung trifft Teresa Bücker wohl den Nerv vieler im Erwerbsalter. 

Zeit ist ein knappes Gut. Man ist beschäftigt mit Lohnarbeit, mit den Kindern, mit anderen Pflichten. Die heraushängende Zunge: ein Grundgefühl.

Arbeit diktiert das Leben

Die Ursache dafür verortet die Journalistin Teresa Bücker in unserer Zeitkultur. Die Erwerbsarbeit stehe im Zentrum, alle anderen Bedürfnisse würden untergeordnet. Für soziale Beziehung, Care-Arbeit und Erholung bleibe zu wenig Platz. «Die Entwicklung des Arbeitsmarktes verursacht Zeitnot für die einen und Geldnot für die anderen. Und für jene, die sich mit mehreren Jobs über Wasser halten müssen, sogar beides.»

Teresa Bücker wird in einem hell ausgeleuchteten Raum fotografiert.
Legende: Teresa Bücker ist deutsche Publizistin und Autorin. Sie schreibt aus feministischer Perspektive zu gesellschaftspolitischen Themen. Paula Winkler

Und so stellt Teresa Bücker unsere Arbeitskultur radikal infrage und plädiert für eine Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit. Der Acht-Stunden-Arbeitstag und die 40-Stunden-Woche gelten als Norm. Und als Errungenschaft der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung.

Keynes sagte die 15-Stunden-Woche voraus

Die wirtschaftliche Produktivität ist in allen Bereichen massiv gestiegen. «Wenn wir in der gleichen Zeit viel mehr Wert schöpfen und produzieren können, warum arbeiten wir dann nicht deutlich weniger?», fragt Bücker.

Dies hatte der Ökonom John Maynard Keynes bereits 1930 prognostiziert. Er gilt bis heute als einer der einflussreichsten Volkswirtschaftler.

In seinem Essay «Ökonomische Möglichkeiten für unsere Enkelkinder» schreibt er, dass wir in 100 Jahren – also im Jahr 2030 – nur noch 15 Stunden die Woche arbeiten werden, weil sich Wohlstand auch in Zeitwohlstand übersetzen würde.

Davon sind wir heute weit entfernt.

Zeit kann man kaufen, den Preis zahlen die anderen

«Wir leben immer noch in einer Klassengesellschaft mit ausbeuterischen Tendenzen», sagt Bücker. «In der Mittel- und Oberschicht besteht die Haltung, dass man Anspruch auf billige Dienstleistungen hat.»

Dienstleistungen, die einem das Leben erleichtern: eine Nanny engagieren, im Restaurant essen gehen, in die Ferien fahren. Oder eine Putzkraft für die eigene Wohnung engagieren, obwohl die Person kaum davon leben kann.

Zeit ist die zentrale Ressource unserer Gesellschaft.

«Die eigene Zeit gilt als wertvoller als die Zeit der Putzkraft.» Menschen mit genügend Geld haben das Privileg, sich Zeit zu kaufen: die Zeit der anderen, die dafür nur knapp entlöhnt werden.  

Daher sei die Frage, wer wie viel Zeit zur Verfügung hat, eine Frage der Gerechtigkeit: «Zeit ist die zentrale Ressource unserer Gesellschaft.»

«Der Acht-Stunden-Tag ist falsch berechnet»

Teresa Bücker weist auf ein weiteres Problem des Acht-Stunden-Arbeitstages hin. Als die Arbeiter und Arbeiterinnen für den Acht-Stunden-Tag kämpften, lautete der Slogan: «Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit, acht Stunden Schlaf.»

Diese Formel unterschlage aber einiges. Zum Beispiel all die unbezahlte Fürsorge-Arbeite, sogenannte Care-Arbeit, die ebenfalls geleistet werden muss. «Die Care-Arbeit ist der Kitt unserer Gesellschaft. Aber sie wird stillschweigend vorausgesetzt. Den Löwenanteil leisten immer noch die Frauen. Unbezahlt.»

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Zeit: Eine Frage von Macht und Freiheit
aus Kultur-Aktualität vom 19.10.2022. Bild: Imago Images
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Die Zeitbudgetforschung zeigt, dass Frauen, die erwerbstätig sind und gleichzeitig Fürsorgearbeit leisten, auf einen 14-Stunden-Arbeitstag kommen. «Das ist schlicht zu viel», so Teresa Bücker.

Anfang des 20. Jahrhunderts waren 15-Stunden-Tage für Fabrikarbeiterinnen normal. «Damals war der Acht-Stunden-Tag ein riesiger Fortschritt», so Bücker. Dieser Fortschritt sei jetzt allerdings 100 Jahre alt und es stelle sich die Frage, ob das noch als Errungenschaft gelten könne.

Ist weniger Arbeitszeit realitätsfremd?

Mit der Forderung, die Erwerbsarbeitszeit zu verkürzen, steht Teresa Bücker diametral der Realität entgegen. Erst vor kurzem wurde in der Schweiz das Rentenalter für Frauen erhöht. In Deutschland flirten gewisse Interessensvertreter mit der Wiedereinführung der 42-Stunden-Woche. Und Bundesfinanzminister Christian Linder sagt: Mehr Überstunden seien unausweichlich, um den Wohlstand zu sichern.

Auch stellt sich die Frage: Wer soll das bezahlen, wenn wir alle weniger arbeiten bei gleichem Lohn?

Wir müssten Zeit politisch verstehen und darum kämpfen.

Teresa Bücker verweist auf die versteckten Kosten der heutigen Arbeitskultur: «Die Arbeitswelt macht viele Leute krank. Burnout, Frühverrentung und so weiter – das sind alles Kosten, die die Allgemeinheit trägt und die mit einer Arbeitszeitverkürzung verhindert werden könnten.»

Und statt sofort die Frage nach den Kosten zu stellen, plädiert Bücker erstmal für einen radikalen Perspektivenwechsel: «Wir müssen endlich anfangen, die Wirtschaftstheorien auf den Boden der Realität zu holen und Care-Arbeit als Fundament unserer Wirtschaft zu begreifen. Dann stellen sich auch andere Fragen.»  

Eine Neuausrichtung der Zeitkultur

Teresa Bückers Buch ist ein Plädoyer für eine radikale Abkehr der herrschenden Zeitkultur. Heute werde die Erwerbsarbeit ins Zentrum gestellt, aber die Bedürfnisse nach Zeit mit Freunden und Familie, nach Zeit für sich allein, nach Erholung, solle genauso ernst genommen werden, wie wirtschaftliche Anliegen.

Buchhinweis

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Teresa Bücker: «Alle Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit – Wie eine radikal neue, sozial gerechtere Zeitkultur aussehen kann». Ullstein, Berlin 2022.

Völlig utopisch, könnte man sagen. «Etwas als Utopie zu labeln, ist ein typischer Abwehrreflex, um Anliegen abzuwerten und lächerlich zu machen», so Bücker. Dabei würden Utopien auf ganz reale Probleme der Gegenwart hinweisen. «Dass so viele Menschen Zeitnot wahrnehmen, ist ein wichtiger politischer Indikator.»

Wir müssten Zeit politisch verstehen und darum kämpfen, so Bücker. «Aber dafür muss man begreifen, dass die Zeit uns gehört.»

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 19.10.2022, 07:06 Uhr

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