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Sachbuch zur Grippe Die Welt im Würgegriff der Grippe

50 bis 100 Millionen Tote: Vor 100 Jahren wütete die Spanische Grippe. Die britische Journalistin Laura Spinney rollt die Geschichte auf. Atemberaubend.

Es gab kein Gegenmittel. Als die Grippe 1918 in vier Wellen zuschlug, wusste man nicht einmal, warum die Menschen der Reihe nach erkrankten. Rund um den Globus. Jeder dritte Mensch fieberte und hustete. Schüttelfrost. Entzündeter Rachen. Die Haut verfärbte sich blau. 50 bis 100 Millionen verstarben.

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Die Welt im Fieber. Die Spanische Grippe 1918 veränderte die Welt
aus Kontext vom 27.06.2018.
abspielen. Laufzeit 12 Minuten 30 Sekunden.

Ursache unbekannt

Viren, diese rätselhaften Wesen irgendwo zwischen Leben und Tod, waren noch nicht bekannt. Sie waren nicht zu sehen. Auch unter dem besten damaligen Mikroskop nicht.

So verabreichten die Schulmediziner jener Zeit den Kranken alles, was ihr Arzneischrank hergab: Aspirin, in rohen Mengen. Oder Arsen. Strychnin, ja sogar Quecksilber. Wohlmeinend zwar, aber ohne jede Kenntnis der Ursache des Übels, das die Menschen ans Bett fesselte – und oft ins Grab brachte.

Eine alte, ullustrierte Werbeanzeige für ein Medikament
Legende: Was wirklich half, wusste man nicht. Medikamentenhersteller warben trotzdem für ihre Produkte. Zum Beispiel für Formamint, Lutschtabletten, die Bakterien im Rachen abtöten sollen. imago/United Archives International

Packende Schilderung

Laura Spinney ist eine begnadete Schreiberin. Als Wissenschaftsjournalistin weiss sie ihr Lesepublikum zu fesseln. Geschickt rollt sie die Geschichte der Spanischen Grippe auf. Sie erzählt von Seuchen, welche bereits die Zivilisationen in der Antike und später im Mittelalter heimsuchten.

Und dann eben die Spanische Grippe, die gar nicht aus Spanien stammte. Der Ursprung der Seuche ist unklar. Sierra Leone oder Boston oder Frankreich? Wir wissen es bis heute nicht.

Buchhinweis

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Laura Spinney: «1918. Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte». Hanser, 2018.

Wir folgen Laura Spinney bei der Rekonstruktion des Todeszugs, den die Seuche damals antrat. Vermutlich hatten die aggressiven Viren schon lange im Enddarm von Vögeln gelauert – und befielen 1918 den Menschen. Dieser erwies sich als trefflicher Wirt für die Erreger.

Sie profitierten bei ihrer rasenden Verbreitung davon, dass im November 1918 der Erste Weltkrieg zu Ende ging. Die Soldaten kehrten nach Hause und trugen das Virus in die ganze Welt. Für einmal brachte auch der Frieden den Tod.

Ein Lager mit zahlreichen Betten für Kranke
Legende: Ein Krankenlager in Kansas um 1918. Dort wurden die an der Spanischen Grippe Erkrankten von Krankenschwestern und Helfern gepflegt. Keystone

Leere Fussballstadien

Das Virus suchte die ganze Welt heim. Und von ihr erzählt Laura Spinney: von der Welt, nicht von Europa oder den USA. Die Autorin berichtet über Rio de Janeiro, wo plötzlich in leeren Stadien Fussball gespielt wurde.

Über ein Dorf an der mongolischen Grenze in China: Verzweifelte Bewohnerinnen und Bewohner holen in panischer Angst Statuen des Drachengottes aus dem Tempel. Nur der Allmächtige kann die Seuche jetzt noch stoppen.

Wenig bekannte Katastrophe

Laura Spinney schliesst mit ihrem Werk eine Lücke. Denn die bisherige Forschungsliteratur zur Spanischen Grippe ist sehr überschaubar und überdies oft in einzelnen Artikeln in Fachzeitschriften versteckt.

Durch dieses neue Sachbuch liegt nun eine Synthese vor. Sie überzeugt sowohl durch die enorme Sachkenntnis und den grossen Umfang.

Frauen mit Atemmasken tragen Bahren
Legende: Mitglieder des American Red Cross Motor Corps während eines Einsatzes in St. Louis, Missouri. Die Masken sollten die Frauen vor der Ansteckung schützen, als die Spanische Grippe um 1918 ausbrach. imago/United Archives International

Allerdings überspannt die Autorin den Bogen in ihren Ausführungen gelegentlich auch. Vor allem in den Kapiteln, die der Wirkung der Pandemie im Verlauf der Geschichte nachgehen.

Spinneys These: Indem die Seuche die Welt zwischenzeitlich in ein apokalyptisch anmutendes Seuchenhaus verwandelte, prägte für einmal ein Grippevirus die politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung massgeblich mit.

Spekulationen über die Folgen

So reizvoll die Mutmassungen auch sind, sie sind rein spekulativ und auch etwas abenteuerlich. Ohne Grippe, so Spinney, wäre beispielsweise 1919 eine klügere und nachhaltigere Nachkriegsordnung möglich gewesen .

Indem deren wichtigster Vertreter, US-Präsident Wilson, nämlich auch an der Grippe erkrankte, habe er sich auf dem politischen Parkett nicht mehr durchsetzen können. War dies wirklich so? Vielleicht. Eher wohl aber nicht. Oder besser: Wir wissen es schlicht nicht.

Zwei Frauen tragen eine Bahre mit einem Kranken darauf zwischen sich
Legende: Eine Demonstration von Krankenschwestern des Amerikanischen Roten Kreuzes in Washington, D.C. um 1918. wikimedia/National Photo Company

Völlig aus der Luft gegriffen ist es, wenn die Autorin anderer Stelle behauptet, die Spanische Grippe habe 1918 «die Schweiz an den Rand eines Bürgerkriegs manövriert». Gemeint ist der Generalstreik.

Diese Verkürzung ist schlichter Blödsinn. Der Generalstreik wurde durch das Unvermögen des bürgerlichen Bundesrats und des Parlaments ausgelöst, der während des Ersten Weltkriegs gewachsenen sozialen Not in der Arbeiterschaft wirkungsvoll entgegenzutreten.

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Die Spanische Grippe steckte 1918 die halbe Schweiz ins Bett
aus Doppelpunkt vom 22.05.2018. Bild: Keystone
abspielen. Laufzeit 51 Minuten 14 Sekunden.

Spinneys manchmal sehr eigenwilligen Interpretationen verengen den Blick auf die Vergangenheit, anstatt ihn zu öffnen. Und sie wollen so gar nicht zu diesem insgesamt sehr sorgfältigen Sachbuch passen.

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