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Sackgassen und Neuanfänge Scheitern tut weh – eröffnet aber neue Wege

Scheitern tun wir alle – im Studium, im Beruf, im Sport, im Leben. Aber kaum jemand spricht darüber. Hier schon: Zwei Männer erzählen, wie sie scheiterten und wie es ihnen gelang, neu anzufangen.

Vor Sales Kistler liegt eine Übungsaufgabe für die praktische Lehrabschlussprüfung. Konzentriert blickt er auf das Holzstück in der Schreinerei der «Werchschüür» in Zürich. Mit über 30 Jahren kämpft er um seinen ersten Berufsabschluss. An seiner ersten Ausbildung ist er gescheitert.

Die Angst, erneut zu versagen, sitzt tief. «Mich stimmt nichts zuversichtlich für die Prüfung», sagt er ehrlich. «Meine Sorge ist extrem gross.»

Eine Abwärtsspirale

Kistler träumte einst davon, Sekundarlehrer zu werden und besuchte die Pädagogische Hochschule in Luzern. Doch das Studium entwickelte sich für ihn zu einem Albtraum aus Leistungsdruck und Versagensängsten. «Am Anfang dachte ich, ich sei einfach faul oder zu dumm», erinnert er sich.

Ich war psychisch völlig am Ende.
Autor: Sales Kistler Schreinerlehrling

Der Druck in der Ausbildung stieg von Jahr zu Jahr. Kistler konnte nicht mehr schlafen, zitterte ständig und suchte Entspannung im Alkohol. «Ich war psychisch völlig am Ende. Erst nach einem Bier hatte ich Feierabend», beschreibt er den Beginn seiner Sucht. Was als Mittel zum Abschalten begann, wurde zur Abwärtsspirale. 

Alkoholentzug und Diagnose

Obwohl er fast alle Masterprüfungen absolviert hatte, brach er kurz vor dem Ziel zusammen und brach das Studium ab. «Ich bin mit meinem Plan, zu studieren, Geld zu verdienen und dann eine Familie zu gründen, gescheitert», sagt Sales Kistler rückblickend.

Es folgten mehrere Klinikaufenthalte, Alkoholentzüge sowie eine Diagnose: Angststörung mit Versagensangst. Eine psychische Erkrankung, bei der die Angst vor dem Scheitern deutlich stärker ausgeprägt ist als üblich und das tägliche Leben einschränkt.

Kistlers Traum, Lehrer zu werden, zerplatzte und er verlor fast den Glauben an sich selbst.

Ein Sportler mit dem Ziel «Olympia»

Auch Samir Serhani weiss, wie es ist, wenn ein Traum zerbricht. Er galt lange als grosse Hoffnung im Schweizer Kunstturnen, holte an Schweizer- und Europameisterschaften Medaillen und Diplome. Sein grosses Ziel: einmal an den Olympischen Spielen zu turnen. Serhani gab alles für diesen Traum.

«Ich war nicht der talentierteste Turner, aber ich habe immer alles gegeben», sagt der 26-Jährige. Oft sei er morgens der Erste gewesen, der sich in der Turnhalle aufwärmte, und abends der Letzte, der das Licht löschte. Bis er im Frühling 2024 merkte, dass etwas nicht stimmte.

«Ich habe mich beim Turnen mit dem Handy gefilmt, um die Videos auf Instagram zu teilen und positives Feedback zu bekommen. Meine Motivation kam nicht mehr von innen.» Dazu kamen mehrere Sportverletzungen – insgesamt musste Serhani fünfmal operiert werden.

Ende 2024 gab er deshalb seinen Rücktritt bekannt – und damit auch seinen grössten Traum auf. Ist er als Sportler gescheitert?

Serhani hadert: «Es ist eine Frage der Perspektive.» Von aussen sehe man, dass er viel erreicht habe. Aber für ihn persönlich ist es komplizierter. «In Bezug auf die Olympischen Spiele bin ich, hart gesagt, schon gescheitert.»

Die grossen Ziele der Schweizer Bevölkerung

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Reisen, ein Eigenheim und die Familiengründung stehen ganz oben auf der Wunschliste. Das zeigt eine Umfrage der Baloise Versicherung aus dem Jahr 2024.

Befragt wurden rund 1300 Schweizerinnen und Schweizer im Alter von 18 von 79 Jahren.

Dabei ging es auch um frühere Lebensziele, die heute nicht mehr aktuell sind.

  • Rund ein Drittel sagt: Ja, das Ziel hat sich erfüllt.
  • Knapp 40 Prozent sagen: Mein Ziel hat sich verändert.
  • Und etwa jede achte Person sagt: Das Ziel ist unerreichbar geworden.

Ziele loslassen

Scheitern tut weh. Es wirft uns zurück, zwingt uns, Abschied zu nehmen – vom Traum, von der alten Identität, der Vorstellung, wer man ist und sein möchte. Aber es eröffnet auch neue Wege.

Sales Kistler gibt trotz seines Studienabbruchs und seiner Angststörung nicht auf. «Ich wollte nicht sagen: ‹Scheissegal, das ist jetzt mein Weg› und mich ohne Abschluss durchschlagen.» Er entschied sich, von vorne zu beginnen und eine Lehre als Schreiner im geschützten Rahmen in Angriff zu nehmen.

Ein Neuanfang, der Mut erforderte – nicht nur wegen der Prüfungen, sondern auch, weil die alten Ängste geblieben sind. «Wenn ich sehe, wo meine Kollegen heute stehen und wie weit ich bin, dann ist das manchmal schon hart», meint Kistler am Morgen vor der grossen Prüfung.

Doch seine Bemühungen zahlen sich aus. Sales Kistler besteht die Prüfung und findet eine Lehrstelle im ersten Arbeitsmarkt. Die Angst vor dem Versagen begleitet ihn weiterhin, aber er hat gelernt, damit umzugehen.

Soll man sich Ziele stecken?

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Die Forschung legt nahe, dass es hilfreich ist, ein Ziel im Leben zu haben – aber es kommt stark darauf an, welche Art von Ziel und wie flexibel man damit umgeht. Die emeritierte Professorin für Entwicklungspsychologie Pasqualina Perrig-Chiello sagt, Ziele gäben uns ein Gefühl der Orientierung und Kontrolle. Vor allem dann, wenn sie intrinsisch, von innen motiviert seien. Menschen, die im Leben klare Ziel hätten, seien zufriedener als Menschen ohne Ziele, so Perrig-Chiello.

Ziele können aber auch belasten. Unrealistische oder fremdbestimmte Ziele können Stress, Schuldgefühle oder ein Burnout fördern. Wenn man Ziele verfehlt oder sie nicht mehr zu den eigenen Werten passen, kann das ebenfalls Frust erzeugen. Die Forschung empfiehlt deshalb: Flexibel bleiben und Ziele anpassen, wenn sich Umstände oder Werte ändern.

Die Befreiung

Der Rücktritt vom Spitzensport war für Samir Serhani eine Befreiung: «Ich hatte Scheuklappen auf und sah nur noch mein Ziel. Alles andere war mir egal.» Seit er diese Scheuklappen abgelegt hat, sieht er das Leben aus einer anderen Perspektive. «Es gibt noch anderes als den Sport im Leben. Das ist mein grösstes Learning.»

Es wäre schön, wenn mir jemand sagen würde: ‹Du hast ein schönes Lachen›.
Autor: Samir Serhani Ehemaliger Kunstturner

Für Serhani ist es ein Prozess, sein altes Leben als Profisportler hinter sich zu lassen. Er möchte nicht mehr nur als Sportler wahrgenommen werden. «Es wäre schön, wenn mir jemand sagen würde: ‹Du hast ein schönes Lachen› oder ‹Du bist mega sympathisch› – und nicht nur: ‹Du hast ein krasses Sixpack›.»

Und trotzdem: Der Sport bleibt ein wichtiger Bestandteil in seinem Leben. Der Ex-Kunstturner trainiert für einen Triathlon.

Neues Ziel, neues Glück

«Da kann ich gut meine Grenzen testen.» Für ihn sei es spannend, herauszufinden, was sein Körper alles leisten kann. Am Ironman möchte er das unter Beweis stellen: 3.8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42.2 Kilometer Laufen.

Für dieses Ziel trainiert Serhani in seiner Freizeit bis zu 30 Stunden pro Woche – etwa so viel wie früher als Kunstturner. Aber warum setzt er sich wieder ein so grosses Ziel?

«Das ist eine gute Frage. Zu Beginn schien mir das Ziel mit dem Ironman verrückt. Aber jetzt, wo ich trainiere, ist es eigentlich gar nicht mehr so verrückt.» Mit dieser Haltung nähert er sich seinem neuen Vorhaben.

Und tatsächlich: Serhani absolviert den Ironman in zehneinhalb Stunden. «Es war ultra streng. Aber ich hätte es mir nicht besser vorstellen können.» Er habe sein Ziel mehr als erreicht. Und jetzt? «Es ist noch nichts Konkretes geplant. Einfach die Freude am Sport behalten – und dann schauen, was als Nächstes kommt.»

SRF 2, rec., 22.9.2025, 22:30 Uhr

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