Als die Künstlerin Marina Belobrovaja ihren Kinderwunsch in die Tat umsetzen möchte, ist sie Mitte 30. Die in der Sowjetunion geborene Filmemacherin lebt in Zürich. Eine längerfristige Beziehung hat sie keine.
So kommt sie auf die Idee, das Kind mithilfe einer Samenspende zu zeugen. Als sie ihrer Familie davon erzählt, reagiert diese positiv: «Sie haben mich von Anfang an unterstützt. Ich zweifle, ob ich mich sonst für diesen Weg entschieden hätte», sagt die Wahlzürcherin.
Bei einer Internetrecherche stösst sie auf Noë, einen privaten Samenspender. Die beiden treffen sich, um sich kennenzulernen. «Er gefiel mir», erinnert sich die heute 46-Jährige, «das war mir schon wichtig».
Zeugung im Hotelzimmer
Später verabreden sich die beiden in einem Hotel. «Ich war wahnsinnig aufgeregt. Gleichzeitig gab er mir ein sicheres Gefühl, weil er so routiniert war.» Schliesslich hatte der Samenspender damals bereits zahlreiche Kinder mitgezeugt. Inzwischen sind es um die 60.
Belobrovaja wird gleich beim ersten Versuch schwanger: «Erst im Nachhinein wurde mir bewusst, was für ein Glück ich hatte», erinnert sie sich.
Im Fokus der Behörden
Die Künstlerin spricht von Anfang an offen über Nellys Entstehungsgeschichte. «Anders hätte ich das gar nicht machen können», sagt sie. 2021 veröffentlicht sie darüber den Dokumentarfilm «Menschenskind!».
Diese Transparenz gilt jedoch nicht allen gegenüber. Als nach der Geburt kein Partner da ist, der die Vaterschaft anerkennt, melden sich die Behörden bei Marina Belobrovaja. Sie muss sich erklären. Weil sie Angst vor rechtlichen Konsequenzen aufgrund der ungewöhnlichen Zeugungsgeschichte hat, erfindet sie eine Geschichte.
Der fiktive Vater
Sie habe bei einem One-Night-Stand in Berlin einen Mann kennengelernt. Dessen Namen kenne sie zwar, behauptet sie, könne ihn aber nicht mehr finden. Der Vater sei also unbekannt. «Es fiel mir schwer, zu lügen», sagt sie heute.
Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) glaubt die Geschichte und die Künstlerin bekommt einen Beistand. Dessen Hauptaufgabe ist es, den genetischen Vater zu finden und als rechtlichen Vater einzuklagen. Würde dieser die Vaterschaft anerkennen, könnten etwa Alimentzahlungen geregelt werden.
Doch weil der erfundene Vater sich nicht aufspüren lässt und das Kind in sogenannt guten Verhältnissen lebt, zieht sich die KESB nach drei Jahren zurück.
Die Macht der Gesetze
Dass Belobrovaja sich für eine private Samenspende entschieden hat, liegt auch am schweizerischen Fortpflanzungsmedizingesetz. Die Samenspende für alleinstehende Personen ist nicht erlaubt. Paare, denen die Möglichkeit zur Samenspende offensteht, wenden sich an eine Klinik.
Diese Kliniken haben Zugang zu Samendatenbanken, bei denen die Angaben der Spender hinterlegt sind. Seit 2001 ist die anonyme Samenspende in der Schweiz verboten. Sobald ein Kind 18 Jahre alt ist, kann es beim Eidgenössischen Amt für Zivilstandeswesen Auskunft über den Spender verlangen. Dieser darf den persönlichen Kontakt allerdings ablehnen.
Kein Zugang für Alleinstehende
Das Angebot der Kliniken dürfen jedoch nur verheiratete Paare in Anspruch nehmen. Seit Sommer 2022 gilt das also auch für lesbische Ehepaare. Unverheiratete Paare und Alleinstehende bleiben weiter ausgeschlossen.
Die Ehe ist kein Garant der Stabilität.
Das sei nicht gerechtfertigt, findet die Rechtswissenschaftlerin Andrea Büchler von der Universität Zürich. Sie ist die Präsidentin der Nationalen Ethikkommission (NEK) im Bereich Humanmedizin und Expertin für Familienrecht. «Die Ehe ist kein Garant der Stabilität», hält sie fest. «Das zeigt schon die hohe Scheidungsziffer.»
Die Gesetzgebung hinke den gesellschaftlichen Verhältnissen hinterher. Sie gehe grösstenteils von der traditionellen Kernfamilie aus. Dabei seien Einelternfamilien längst Realität. Daher spreche sich die NEK für die Samenspende bei Alleinstehenden aus.
Wenn Eltern lieber schweigen
Marina Belobrovaja wusste von Anfang an, dass sie sich in einer rechtlichen Grauzone bewegt. Allerdings hätte sie auch ins Ausland fahren können. In Dänemark sind Samendatenbanken beispielsweise auch «single mothers by choice» zugänglich, also überzeugten alleinerziehenden Müttern.
Für die Filmemacherin kam das jedoch nicht infrage: Bei einem potenziellen Kontakt wäre der genetische Vater geografisch und sprachlich zu weit weg. «Für mich war wichtig, dass Nelly den Spender auf einfache Weise kennenlernen kann, wenn sie will», sagt sie.
Dass Nelly ihren biologischen Vater kennenlernen kann, ist nicht selbstverständlich. Denn dazu muss ein Kind erst einmal wissen, dass es mithilfe einer Samenspende gezeugt wurde. Das sei für viele Eltern mit einem Gefühl der Scham verbunden, erklärt Andrea Büchler: «Oft ist es nach wie vor ein grosses Tabu. Viele Eltern schweigen lieber darüber.»
Transparenz tut not
Büchler wünscht sich, dass häufiger und offener über solche Geschichten gesprochen wird: «Dann würde man merken, dass man nicht allein ist.» Das gelte insbesondere für gemischtgeschlechtliche Paare. Diese können leicht den Anschein aufrechterhalten, die genetischen Eltern zu sein.
Gleichgeschlechtliche Paare oder Alleinstehende kommen eher mal in Erklärungsdruck, weil der «natürliche Gegenpart» fehlt. Entsprechend transparenter sei die Kommunikation, beobachtet die Rechtsprofessorin.
Das bestätigt auch die Geschichte von Marina Belobrovaja, die sie in ihrem Dokumentarfilm verarbeitete. Bei den Dreharbeiten lernte sie andere Menschen kennen, die mithilfe Dritter ein Kind gezeugt haben und ebenso offen darüber sprechen.
Nur wenige wollen’s wissen
Dass jedoch viele Eltern über eine Samenspende schweigen, könnte mit ein Grund sein, weshalb bislang nur wenige Kinder beim Eidgenössischen Amt für Zivilstandswesen Auskunft über ihren genetischen Vater verlangt haben.
Zwischen 2001 und 2004 sind knapp 200 Kinder mit einer Spermienspende gezeugt worden. Sie sind heute alle volljährig und könnten also Akteneinsicht verlangen. Von 2019 bis 2021 sind jedoch bloss drei Auskunftsbegehren eingegangen . Zahlen für 2022 liegen noch keine vor.
Warten auf die Volljährigkeit
Rechtsexpertin Büchler würde es begrüssen, wenn die Kinder schon vor dem 18. Lebensjahr Einsicht in die Dokumente der Spender hätten: «Die Urteilsfähigkeit ist meines Erachtens das entscheidende Kriterium, nicht die Volljährigkeit». Je nach persönlicher Entwicklung sei ein Kind schon mit 10 oder 14 Jahren urteilsfähig.
Aufklärung gehört zur elterlichen Beistandspflicht.
Dazu komme ein weiteres Argument: «Wenn die Eltern das Kind bereits vor dem 18. Geburtstag über seine Entstehungsgeschichte aufklären, ist es nicht nachvollziehbar, dass es bis zur Volljährigkeit warten muss, um den Namen des Spenders zu erfahren.»
Aufklärung wäre Pflicht
Für Eltern gibt es derzeit keine explizite rechtliche Bestimmung, ihre mithilfe einer offiziellen Samenspende gezeugten Kinder aufklären zu müssen. Rechtswissenschaftlerin Büchler hält dies aber für wünschenswert: «Kind und Eltern sind einander zu Beistand verpflichtet», erklärt sie. «Ich würde sagen, dass solch eine Aufklärung zu dieser Pflicht gehört.»
Eltern sollen vonseiten der Kliniken stärker begleitet und bei der altersgerechten Aufklärung ihrer Kinder mehr unterstützt werden, fordert sie: «So würde man sie nicht allein lassen. Das wäre ein erster Schritt.»
Die Rechtsexpertin ist überzeugt, dass aufgrund der personalisierten Medizin und der grösseren Bedeutung der Genetik in der Medizin künftig mehr Eltern transparent mit ihren Kindern sein werden: «Denken Sie an eine mögliche Behandlung bei einer Krankheiten mit erblichem Anteil. Da ist man auf dieses genetische Wissen angewiesen.»
«Der Mann, der mir geholfen hat»
Belobrovaja spricht mit ihrer Tochter Nelly schon früh über deren Entstehungsgeschichte. Die Position des Vaters bleibt deshalb keine Leerstelle.
Als Nelly drei Jahre alt ist, möchte sie wissen, wie Babys entstehen. «Ich dachte, das sei ein guter Moment, um ihr von ihrer eigenen Zeugung zu erzählen». Altersgerecht spricht die Mutter vom «Mann, der mir geholfen hat».
Später suchen die beiden zusammen nach einer passenden Bezeichnung für den Spender Noë. «Nelly fand den Begriff ‹biologischer Vater›», erinnert sich Belobrovaja. «Ich fand es gut, dass sie selbst einen Begriff formuliert.»
Die Filmemacherin selbst verwendet für Noë den Begriff «Vater» nicht: «Für mich ist er unpassend, weil ich ihn mit Verbindlichkeit und Geborgenheit verbinde – damit, wie ich meinen eigenen Vater erlebe. Die Beziehung von Noë zu Nelly ist eine ganz andere.»
Bis heute haben sich die beiden noch nie getroffen. Die Mutter schickt zu Weihnachten vielleicht mal ein Bild des Mädchens. Je älter die Tochter wird, desto sporadischer würde der Kontakt.
Die Tochter nimmt es gelassen
«Mir ist es wichtig, dass Nelly selbst entscheiden kann, wann sie Noë trifft», betont Belobrovaja. «Erst vor Kurzem haben wir wieder darüber gesprochen und sie sagte, sie brauche noch ein paar Jahre.»
Weil die Tochter von Anfang an über die Verhältnisse Bescheid wisse, gehe sie entspannt mit der Geschichte um: «Unsere Familienkonstellation ist ihre Realität. Sie kennt nichts anderes und kann im Moment gut damit leben», ist Belobrovaja überzeugt.
Die Adoptionsforschung gibt der Mutter recht, wie Rechtswissenschaftlerin Büchler erklärt. So wisse man, dass das Wissen um die eigene Abstammung und ein offener Umgang damit für die Identitätsfindung wichtig sein können.
Stolz auf die vielen Geschwister
Vor etwa zwei Jahren habe Nelly das erste Mal öffentlich über ihre Familienkonstellation gesprochen. In der Schule war das, als Familie das Thema war.
«Fasziniert und irgendwie stolz erzählte sie von sich und ihren 59 Geschwistern», sagt Belobrovaja schmunzelnd. «Das beschäftigt sie, aber einfach als Tatsache. Sie will nicht alle diese Menschen gleich kennenlernen.»
Die Kleinfamilie als Korsett
Die Filmemacherin bereut ihren Entscheid nicht, bewusst allein ein Kind bekommen zu haben. Nachdenklich stimmen sie eher die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Schweiz, in denen sie sich zu diesem Weg gezwungen sah.
Ich hätte gerne eine andere Gesellschaft.
Viele Menschen hingen immer noch am Bild der intakten, heteronormativen Kleinfamilie. Das müsse sich ändern, fordert die Zürcherin: «Ich hätte gerne eine andere Gesellschaft, in der ich den Begriff der Familie in Frage stellen und anders definieren könnte.»