Aufgewachsen auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik, der frühe Unfalltod seines Bruders, Legasthenie, ein Hirnschlag vor sieben Jahren: Joachim Meyerhoffs Biografie trägt die Dramaturgie eines Romans bereits in sich.
Anrührend und voller Selbstironie agiert er in bislang sechs autobiografischen Büchern als sensibler Chronist seines eigenen Lebens und der Welt um ihn herum. Unter dem Titel «Alle Toten fliegen hoch» macht er Misserfolg, Unglück, Scheitern scheinbar zum Erfolg.
Blutbruderschaft mit Hund
In einem Text, den er bereits als 7-jähriger Legastheniker geschrieben hat, gäbe es rund 15 verschiedene Varianten des Wortes «Aquarium», erzählt Meyerhoff. Als Kind hätte er zudem viel Energie und Zorn in sich gehabt, Zorn auf Ungerechtigkeiten, sodass ihn seine Brüder gerne mit «blonde Bombe» aufzogen.
Das nächtliche Schreien der Patienten in der Psychiatrischen Klinik, wo sein Vater als Leiter agierte, dieses «Schreikonzert des Wahnsinns», habe er als Kind geliebt. Einmal sei er mit dem Familienhund in den Keller gegangen, weil er sich einsam fühlte und einen Freund brauchte. Dort habe er den Hund in die Pfote und sich in den Finger geritzt und Blutbruderschaft gefeiert. Später hätten seine Brüder gesagt, sie hätten das Gefühl, der Hund sei nun noch blöder als vorher.
Mit Erfundenem zum richtigen Leben
Inszeniert Meyerhoff sein Leben vielleicht nur als grosses Verwirrspiel? Oder spielt er, spielen wir alle, nicht immer eine Rolle? Er habe auf all den Wahnsinn in seinem Leben nicht immer eine authentische Antwort gehabt, sagt Meyerhoff. Aber durch die Fiktionalisierung habe er eine Art «Selbst-Mythos» geschaffen, worin Wahrheit und Fiktion enthalten seien.
Die Geschichten in seinen Büchern seien aus einem grossen, defizitären Gefühl des Authentischen mit der eigenen Existenz entstanden. In dieser Fiktion habe er viel Entlastung gefunden. Der frühe Tod seines Bruders, der Verlust des Vaters und der Grosseltern, all diese Brüche hätten ihn so an Grenzen gebracht, dass er sich an gewisse Dinge nicht mehr habe erinnern können. Erst über die Erfindung gewisser Dinge – auf der Bühne oder in seinen Büchern – seien vergessene Dinge plötzlich wieder aufgetaucht.
Lücken schliessen
Meyerhoff vergleicht es mit Demenzkranken: Menschen, die ins Vergessen geraten, wüssten zu Beginn sehr genau, dass ihnen Dinge, Ereignisse, abhandenkommen.
Diese Lücken werden dann durch Erfindungen geschlossen: «Also, wenn sich jemand anzieht und losgehen möchte, gefragt wird, wohin er gehen wolle, und dieser plötzlich nicht mehr weiss, was er eigentlich vorhatte, dann sagt er vielleicht, ich wollte nur kurz zur Bushaltestelle gehen, da ich dort einen Koffer liegengelassen habe.» Im Nachhinein werde die Realität durch Fiktion legitimiert; ein Verhalten, das mit dem schönen Begriff «Konfabulation» benannt würde.
Für Meyerhoff gilt diese «Konfabulation» nicht nur für Demenzkranke: Ununterbrochen würden wir Wahrheiten für Dinge herstellen, die uns eigentlich ein Rätsel sind. Etwas Ähnliches geschehe ihm beim Schauspiel: Auch dort würde er durch das Spiel Zugang finden zu Aspekten des eigenen Wesens, die er sonst nicht entdecken oder unmittelbar verstehen würde.
Und beim Schreiben? «Dort schreibe ich die Realität schwindelig, bis sie ohnmächtig wird und sich erzählen lässt.»