Zum Inhalt springen

Schauspielern statt Büffeln Auch so kann man Geschichtsstoff vermitteln

Die Bühne bietet einen einzigartigen Zugang zu Gesellschaftsthemen. Diese Erfahrung machen zukünftige Primarlehrerinnen und -lehrer aus St. Gallen. Sie schlüpfen in die Rolle junger Mädchen während des Zweiten Weltkriegs – und sollen so später mehr Verständnis für Menschenrechte vermitteln können.

Das Wichtigste in Kürze:

  • Studierende der Pädagogischen Hochschule St. Gallen nähern sich einem historischen Thema an: Indem sie die Geschichte selber nachspielen.
  • Im Stück «Verhört!» arbeiten sie die Geschichte einer Schulklasse auf, die sich 1942 gegen den Bundesrat stellte.
  • Die Studierenden begrüssen, dass sich im Theater Themen physisch erleben lassen.

Rorschach, auf einem Hügel hoch über dem Bodensee: Auf der Bühne der Aula stehen Studierende der Pädagogischen Hochschule St.Gallen. Es stehen Proben an für das Theaterstück «Verhört». In Zentrum steht ein historischer Brief.

1942: Ein paar Mädchen beweisen mitten im Zweiten Weltkrieg Zivilcourage. Sie sind 14 Jahre alt und besuchen die Sekundarschule in Rorschach. Eben entschied der Bundesrat, jüdische Flüchtlinge vermehrt über die Schweizer Grenze zurückzuschicken.

Engagierte Schülerinnen

Von einem Zeitungsbericht über diese menschlichen Schicksale berührt, verfassen die Sekundarschülerinnen einen emotionalen Brief: «Sehr geehrte Herren Bundesräte! Wir können es nicht unterlassen Ihnen mitzuteilen, dass wir in den Schulen aufs höchste empört sind, dass man die Flüchtlinge so herzlos wieder in das Elend zurückstösst …»

Der mutige Appell an die Menschlichkeit des Bundesrates hat Konsequenzen – negative. Bundesrat Eduard von Steiger lobt zwar das Engagement der jungen Mädchen, rügt jedoch deren Haltung: «Wenn Du alt und reif genug wärest, um Dir ein Bild davon machen zu können, was die Schweiz tut im Vergleich mit anderen Ländern, dann hättest Du Deinem Bundesrat nicht so schlechte Zeugnisnoten ausgestellt.»

Bild der Schulklasse die 1942 mit dem Brief an den Bundesrat auf sich aufmerksam gemacht hat.
Legende: Diese Schulklasse aus Rorschach forderte 1942 vom Bundesrat ein Umdenken in der Flüchtlingspolitik. Archiv Familie DeLucca-Gansner

Beleidigter Bundesrat

Schülerinnen und Lehrer werden verhört. Auslöser waren diese Worte: «Es kann ja sein, dass Sie den Befehl erhalten haben, keine Juden mehr aufzunehmen, aber der Wille Gottes ist es bestimmt nicht.»

Zum Theaterstück

Box aufklappen Box zuklappen

Aus den Originaldokumenten der Geschichte rund um den Protestbrief von 1942 inszenierte Regisseur Beat Knaus 2016 das dokumentarisches Stück «Verhört!» , das nun am Ort des Geschehens in adaptierter Form auf die Schulbühne kommt.

Der Vorwurf: Beleidigung. Das geht aus dem Verhörprotokoll hervor: «Das heisst, der Bundesrat sei nicht mehr eigener Herr und Meister, er könne nicht mehr tun, was er für richtig finde, er sei nicht mehr frei, sondern müsse tun, was die Deutschen ihm vorschreiben. Das ist für den Bundesrat eine Beleidigung, über welche er sich zu Recht beklagt. (…) Diesen Männern, glaubst Du nicht auch, braucht Ihr Realschülerinnen nicht zu sagen, was sie zu tun haben. Das geht nicht an.»

Emotionale Zeitreise

Heute, 75 Jahre danach, werden Brief und Verhörprotokoll lebendig, entfalten eine neue Wirkung. Die Theaterpädagogen Björn Reifler und Kristin Ludin haben das Stück mit den angehenden Lehrpersonen einstudiert.

Gemeinsam mit dem Leiter der Fachstelle für Menschenrechte und Demokratiebildung entschloss man sich, den historischen Stoff auf die Bühne zu bringen. Aus ihrer Sicht der ideale Ort, um sich mit gesellschaftlichen Themen und Fragen der Menschenrechte auseinanderzusetzen: «Im Theaterspiel erfasst man ein Thema nicht nur kognitiv. Man muss es erfahren – verkörpern, Emotionen zulassen, es als ganzer Mensch erfassen», sagt Björn Reifler.

Das scheint zu funktionieren. Der Studierende Daniel Pfister vergleicht diese Bühnenerfahrung gar mit einer Zeitreise: «Wenn ich auf der Bühne spiele, muss ich überlegen, wie sich die von mir verkörperte Person gefühlt hat. Man stellt sich das einfach vor, aber bald wird klar, dass ich bestimmte Worte nicht benutzen, bestimmte Bewegungen nicht ausführen darf, da sie nicht in die gespielte Zeit passen. Dadurch kann ich mich mit der Geschichte identifizieren. Ich hab das quasi selber erlebt, einfach auf der Bühne.»

Darstellerinnen strecken ihre Hände durch Gitterstäbe.
Legende: Das Spielen einer real existierenden Person lässt die Studierenden in ihre Lebenswelt eintauchen. Andreas Rissi

Theater als Inspiration für den Lehrerberuf

Pfisters Mitstudentin Marisa Nuber betont: «Im Unterricht war der Zweite Weltkrieg schon oft Thema. Aber wenn ich selber spiele, werde ich in die Zeit zurückversetzt. Ich arbeite mit Worten, die jemand anderes von sich gegeben hat, der damals lebte. Dadurch kann ich besser verschiedene Meinungen nachvollziehen. Das berührt mich so viel stärker, als wenn ich es im Geschichtsbuch lese.»

Auf ebendiesen Effekt legt die Theaterpädagogin Kristin Ludin Wert. Lehrpersonen müssten Schüler so anleiten können, dass eine interaktive Auseinandersetzung mit Themen stattfinde. «Damit werden Thematiken wie die Flüchtlingspolitik oder allgemeiner Menschenrechte derart verinnerlicht, dass sie nachhaltig in ihnen weiter schwingen.»

Von der Bühne inspiriert, fassen die angehenden Lehrkräfte einen Vorsatz. Im zukünftigen Beruf wollen sie diese Themen genauso vermitteln: im emotionalen Spiel.

Sendung: SRF 1, Kulturplatz, 06.12.2017, 22.25 Uhr.

Meistgelesene Artikel