Zum Inhalt springen

Header

Inhalt

Scheich mit Schminke Die Bruderschaft mit dem weiblichen Oberhaupt

Der türkische Sufi-Orden der Rifai‘yya predigt Toleranz, hat hunderttausende Anhänger und wird von einer Frau geleitet.

Cemalnur Sargut passt nicht in das Bild, das man sich von einem Scheich macht. Die 65-Jährige trägt ihr schwarzes Haar schulterlang und offen, dazu eine randlose Brille und manchmal auch Lippenstift.

Zweimal geschieden ist sie obendrein – und dennoch das Oberhaupt der Rifa’iyya, eines islamischen Sufi-Ordens mit hunderttausenden Anhängern.

Audio
Eine Frau ist Scheich – ein Sufi-Orden unter weiblicher Leitung
aus Kultur kompakt vom 27.09.2018. Bild: SRF / Sébastien Thibault
abspielen. Laufzeit 19 Minuten 38 Sekunden.

Buntes Mosaik

Nur aus der Ferne sieht der Islam in der Türkei aus wie die orthodoxe Einheitsreligion, die das staatliche Religionsamt propagiert. Aus der Nähe gleicht der türkische Islam eher einem bunten Mosaik von Sekten, Orden und Bruderschaften, die alles andere als orthodox sind.

Offiziell sind die Orden in der Türkei zwar seit hundert Jahren verboten. Doch ihre lebendige Vielfalt zeigt, dass der Glaube sich nicht staatlich verordnen lässt.

Mystische Strömung des Islam

Mit einer Frau an ihrer Spitze sind die Rifai’yya auch für türkische Verhältnisse ein ungewöhnlicher Orden. «Ich weiss selbst nicht, wie ich dazu gekommen bin», sagt Cemalnur Sargut.

Sie werde aber in dieser Rolle akzeptiert, «weil die Menschen erkennen, wenn jemand aufrichtig ist und das vorlebt, was er predigt».

Ein Bild von Cemalnur Sargut bei einer Lesung.
Legende: Predigt Toleranz: der türkische Sufi-Orden der Rifai‘yya mit Cemalnur Sargut an der Spitze. Nefes Yayinevi

Was Sargut predigt, ist der Sufismus – eine mystische Strömung des Islam, die aus dem Koran keine strikten Vorschriften herausliest, sondern eine Geisteshaltung.

«Die Essenz des Sufismus ist es, zu verstehen, dass jedes Geschöpf ein Teil von Gott ist», sagt Sargut. «Toleranz, Liebe und Achtung vor allen Menschen: Das ist die Erfüllung der islamischen Mystik, des Sufismus.»

Suche nach höherem Bewusstsein

Die Anhänger von Sufi-Orden nennt man Derwische, und den Weg zu Gott suchen sie oft mit Ritualen, die je nach Orden verschieden sind.

Am bekanntesten ist der Mevlevi-Orden mit seinen wirbelnden Derwischen, deren Tanz sie zu höherem Bewusstsein führen soll. In anderen Sekten wird ein Gebet oder ein Spruch rezitiert oder mit einer Gebetskette meditiert.

Bei den türkischen Rifa’iyya verläuft der Weg zum Bewusstsein anders. «Das war die geniale Idee unseres Meisters», sagt Sargut über den Ordensvater Kenan Rifai, der die Sekte zu Beginn des 20. Jahrhunderts gründete.

«Als 1925 alle Derwisch-Orden geschlossen wurden, hat er uns aufgetragen, den Sufismus eben auf dem Bildungsweg zu lehren.»

Diesen Rat haben die Rifa’iyya unter der Führung von Cemalnur Sargut befolgt und sich in der Türkei als Bildungsverein eintragen lassen. So kann der Orden nicht nur Vorträge halten und Schriften veröffentlichen; er hat auch einen Lehrstuhl für Sufismus an einer staatlichen Universität in Istanbul gegründet, an dem Sargut einen Master-Studiengang für Sufismus unterrichtet.

Frauen an der Spitze

Auch die aussergewöhnlich starke Rolle von Frauen bei den türkischen Rifa’iyya geht auf den Gründer Kenan Rifai zurück, der als seine Nachfolgerin eine Frau benannte. Von ihr übernahm später Cemalnur Sargut das Amt.

Ihre Anhänger haben damit kein Problem: «Ab einem bestimmten Bewusstseinsniveau löst sich der Geschlechtergegensatz auf», sagt ein 39-jähriger Ingenieur, der Sarguts Vorträge regelmässig besucht. «Auch das haben wir von der Meisterin gelernt.»

Ein Porträt von Cemalnur Sargut.
Legende: Cemalnur Sargut. Oberhaupt des Sufi-Ordens: Dass sie eine Frau ist, spiele keine Rolle. Nefes Yayinevi

Unter den Anhängern des Ordens überwiegen dennoch die Frauen – und zwar insbesondere gebildete Frauen der oberen Schichten, die kein Kopftuch tragen. Ihnen eröffne der Orden einen Weg zum Glauben und zur Spiritualität, der ihnen im orthodoxen Islam versperrt sei, sagt Cemalnur Sargut.

Das Bedürfnis danach ist offenbar gross: Sarguts jüngstes Buch erreichte eine Auflage von 100’000, auf Facebook folgen ihr mehr als eine halbe Million Nutzer – auf Instagram sind es fast 250'000.

Meistgelesene Artikel