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Schleim, Haut, Fett: Das ausgeklügelte System der Schlachtabfälle
Aus Passage vom 24.01.2020. Bild: Keystone / Mohssen Assanimoghaddam
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Schlachtabfälle in der Schweiz Was beim Schlachten übrig bleibt

Von einem geschlachteten Tier landet nur gerade ein Drittel als Entrecôte oder Filet auf Schweizer Tellern. Übrig bleiben rund 240'000 Tonnen pro Jahr. Dieser Rest ist kein Abfall. Er wird weiter verwertet, etwa zu Medikamenten.

Es sieht aus wie riesige, ineinander verschlungene Regenwürmer. Glatt und hellrosa, in den Windungen etwas dunkler. Ein Konglomerat aus Dünndarm und Dickdarm. Aus Magen, After und Bauchspeicheldrüse. Zehn, zwölf Kilogramm schwer.

Der Metzger zieht es aus dem Schwein. Ein paar Sekunden zuvor hat er das Tier geöffnet. Mit einem Schnitt quer über den Bauch. Nun legt er das glibberige Paket auf ein Förderband.

Wir essen nur ein Drittel des Tiers

Was wir landläufig als Schlachtabfall bezeichnen, hat hier im Schlachthof Bell in Basel einen anderen Namen: Schlachtnebenprodukt. 240'000 Tonnen davon fallen jährlich in der Schweiz an, nicht nur von Schweinen, auch von Rindern oder Kälber.

Nicht nur Innereien, auch Köpfe, Luftröhren, Blut, Häute. Alles, was Schweizerinnen und Schweizer nicht essen. Rund zwei Drittel eines Tieres. Aber: Nichts davon bleibt ungenutzt.

Was passiert mit dem Rest des Tiers?

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  • Die Füsse von Rindern und Kühen sind sogenanntes K3-Material: Es ist nicht für den menschlichen Verzehr geeignet, weist aber kein Risiko von Krankheiten auf. Dazu gehören auch das Herz, das Blut, die Nieren oder Leistenfleisch. Bei einem Rind sind es 15 Prozent des Körpers. Sie dürfen weiterverarbeitet werden – zu Heimtierfutter.
  • Mist und Urin, Magen- und Darminhalt gehört zum sogenannten K2-Material. Insgesamt 15 Prozent eines Rindes. Bei K2-Material besteht ein Risiko von nicht übertragbaren Krankheiten. Es dient unter anderem der Produktion von Biogas. Die dabei entstehenden Gärrückstände werden als Düngemittel eingesetzt.
  • Neben K3- und K2-Material kennt das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen noch K1-Material, die höchste Risikokategorie der Schlachtabfälle. K1 besteht aus BSE-Risikomaterial und Reststoffen, die für den Menschen schädlich sein können. Insgesamt etwa 12 Prozent eines Rindes. K1-Material wird in der GZM Extraktionswerk AG sterilisiert und in Mehl und Fett aufgetrennt.
  • Mehl wird in Zementfabriken als Brennstoff verwendet. Dabei entsteht eine phosphorreiche Asche. Das Phosphor lässt sich aufschliessen. In der Schweiz sind Anlagen geplant, die aus dem Phosphor Düngemittel herstellen.
  • Aus dem Fett entsteht Biodiesel. Die Centravo AG tankt damit ihre Lastwagenflotte, mit der sie die Schlachtnebenprodukte bei den Schlachthöfen abholt.
  • 99 Prozent der Schweizer Tierhäute gehen ins Ausland – hauptsächlich zu Gerbereien in Italien und Deutschland. Schweizer Tierhäute haben einen guten Ruf. Sie werden zur Herstellung von Möbeln oder Mode verwendet.
  • Aus Schweine-Schwarten entsteht Collagen für die Kosmetik-Industrie.
  • In gewissen Bäckereien wird die Aminosäure L-Cystein verwendet, um das Mehl leichter knetbar zu machen. Gewonnen wird es aus Schweineborsten.
  • Seit dem Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und China vom Juni 2019 dürfen fünf Schweizer Fleischverarbeiter die Ohren, Füsse, Schwänze und Schnauzen von Schweinen nach China exportieren. Die Nachfrage ist riesig, seit dort die afrikanische Schweinepest wütet.
  • Das Wasser zum Brühen des Schweinedarmes trennt auch das Fett weg. Das Fett wird aufgefangen und abgerahmt. Es geht in die Oleochemie zur Herstellung von Kerzen und Seifen.
  • Der Dünndarm wird eingesalzen, eingefroren und nach China exportiert – wegen fehlender Verarbeitungsanlagen in Europa. In China werden die Därme kalibriert, konfektioniert und schliesslich international vermarktet.

Das Konglomerat rutscht durch ein Fallrohr ins erste Untergeschoss und landet auf einem metallenen Tisch. Kurz zuvor – in der Schlachtstrasse von Bell – hat es ein Veterinär auf Abweichungen untersucht und freigegeben.

«Ab hier sind wir Besitzer dieses Produktes», erklärt Wolfgang Burkhard. Er ist Geschäftsleiter der Centee, einer Tochtergesellschaft der Centravo, der grössten Verwerterin von tierischen Nebenprodukten in der Schweiz.

In einem Schlachthaus hängen unzählige geschlachtete Scheine an Stangen.
Legende: In der Schweiz fallen jährlich 240'000 Tonnen Schlachtnebenprodukte an. Nicht nur von Schweinen, auch von Rindern oder Kälbern. imago images / daniel schvarcz

Viele Patienten profitieren

In einem ersten Arbeitsschritt entfernt ein Mitarbeiter die Bauchspeicheldrüse. Mit einem geübten Handgriff. «Anschliessend frieren wir sie ein und liefern sie nach Deutschland», erklärt Burkhard. Dort entsteht daraus das Medikament Pankreatin.

Es enthält Enzyme, welche die Nahrung in ihre Einzelteile zerlegen und hilft bei Verdauungsbeschwerden wie Völlegefühl oder Blähungen. Für Patienten mit Pankreatitis oder Pankreas-Krebs, bei denen die Bauchspeicheldrüse entnommen wurde. Und auch für Patientinnen mit Mukoviszidose – ein Gendefekt, bei dem alle Drüsen schleimen.

Mittel gegen Arthrose

Die Pharma-Industrie verwertet verschiedene Schlachtnebenprodukte zu Medikamenten: Aus den Knorpeln von Luftröhre und Kehlkopf von Rindern und Schweinen wird Chondroitin-Sulfat gewonnen, ein wichtiger Hilfsstoff zur Behandlung von Arthrose.

Man findet es auch in Nahrungsergänzungsmittel. Aus dem Rinderhirn entsteht Cholecalciferol (Vitamin D3). Und aus dem Blut der Kälber werden Wirkstoffe zur Wundheilung von inneren Organen gewonnen.

Ein Mann beim Verarbeiten eines Schweins im Schlachthaus.
Legende: Kein einfacher Job: Die komplette Weiterverwertung von geschlachteten Tieren benötigt viel Handarbeit. imago images / Westend61

Kaum erträglicher Geruch

Acht Mitarbeiter arbeiten hier in dieser kleinen Fabrikhalle. Kaum Fluktuation. Fliessband-Arbeit. Für jeden Schritt bleiben ein paar Sekunden. Alle haben sie einen Migrationshintergrund. Die meisten kommen aus Ostafrika.

Einer von ihnen packt nun den glibberigen Klumpen und entfernt Magen, Milz und Netzfett. Ein anderer löst den Dünndarm mit einer Rasierklinge – der diffizilste Arbeitsschritt. Von einer Kette angezogen, läuft der Darm durch die Entkotungsanlage. Der Geruch? Undefinierbar, fremd. Kaum erträglich.

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Die Verwertung der Sau
Aus Kultur Extras vom 10.10.2017.
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Anschliessend wird der Darm in 41 Grad warmem Wasser gebrüht. Nur so löst sich die Mukosa, der Darmschleim. Eine rosarote, schleimige Suppe. Sie wird in einer Tränke aufgefangen.

Nichts bleibt ungenutzt

1,6 Kilogramm Darmschleim pro Schwein. Er enthält viele Heparin-Moleküle, die grosse Pharmafirmen extrahieren. Als Spritze kommt Heparin auf den Markt – als Blutverdünner, um Gerinnsel und Thrombosen zu vermeiden.

Von einem geschlachteten Tier bleibt nichts ungenutzt. Einiges davon kann unser Wohlbefinden verbessern, einiges sogar unser Leben retten. Ein Aspekt, der in der Debatte rund um Nachhaltigkeit und Fleisch oft vergessen geht.

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