Das Ende der Welt kommt nicht mit einem Knall. Es beginnt mit einem Klopfen an der Haustür. Zumindest in Paul Lynchs Roman «Prophet Song»: Eine irische Familie wartet abends auf den Vater, es klopft und statt des geliebten Familienmitglieds steht die Geheimpolizei vor der Tür.
Das Ende meiner Welt
Es folgt ein leises Abrutschen: Aus Demokratie wird Diktatur, aus Alltag Überleben. Vom ersten Satz an zeichnet Lynch in intimster Klarheit nach, was mit einer Familie geschieht, die in den Strudel von staatlicher Gewalt, Willkür und Verfolgung gerät. Dass seine Geschichte in einem westeuropäischen Land mit einer gefestigten Demokratie spielt, macht es noch verstörender.
Der Roman, in dem Irland ein totalitärer Staat wird, trifft Lesende mit voller Wucht. Das Ende der Welt, so viel wird klar, ist kein einmaliges und plötzliches Ereignis wie die biblische Apokalypse.
«Das Ende der Welt wiederholt sich immer und immer wieder, aber bloss lokal», sagt Lynch im Gespräch. Es trifft eine Stadt, ein Land, eine Familie. Was für die einen der Untergang ist, ist für die anderen nur ein Beitrag in den Nachrichten.
Mitleid in der Krise
Als Schriftsteller interessiere ihn deshalb das Problem des Mitleids: «Unser Alltag mit seiner hochtourigen kognitiven Belastung erschwert es uns, echtes Mitleid zu empfinden. Wir können uns nicht wirklich mit den Bildern in den Nachrichten verbinden. Wir errichten hohe Mauern um unser gutes Gefühl, weil wir nicht zu viel Leid zulassen können.»
Ich schreibe im Präsens, damit die Sätze die Leser in das schlagende Herz des Augenblicks transportieren.
Die Anlage des Buches ist eigentümlich. Ohne Anführungs-, Schlusszeichen oder Absätze zieht Lynch die Lesenden poetisch in den Strudel des Abgrundes mit: «Ich schreibe im Präsens, damit die Sätze die Leser so in Raum und Zeit transportieren, damit sie das schlagende Herz des Augenblicks mitbekommen.»
Erleuchtung im Taxi
Sein Schreiben, sagt Lynch, sei aus innerer Not entstanden. Lynch brach sein Philosophiestudium ab, betätigte sich als Musiker, wurde Filmkritiker. Dann machte er Urlaub auf Sizilien, in einem Taxi kam die Erleuchtung: Wie ein Blitz von oben sprach eine Stimme: «Du bist dazu bestimmt, Romane zu schreiben! Dein Leben ist eine Lüge. Alles ist Lüge. Wenn du jetzt nicht abbiegst, wirst du als verbitterter alter Mann sterben.»
Lynch bog ab, wurde Schriftsteller. Es sei ein Erwachen gewesen für ihn. Zum ersten Mal sei ihm bewusst geworden, wer er wirklich ist. Ein Satz aus den Apokryphen, also nicht kanonisierten christlichen Texten, dient ihm heute als Maxime: «Wenn du das, was in dir ist, nutzt, wird es dich retten. Wenn du es nicht nutzt, wird es dich zerstören.»
Schreibend meditieren
Dieses «authentische Selbst» sei ein wichtiger Teil allen künstlerischen Schaffens. Deshalb bemühe er sich darum, diesem Selbst immer wieder zu begegnen – im Schreiben und in der täglichen Meditation. Das pflegt Lynch schon zwanzig Jahre lang.
Vielleicht habe ihn auch die Meditation gelehrt, dass ein gewisser Zauber entstehe, wenn man die Welt aus einem Gefühl des Staunens heraus bewohne. Stattdessen seien wir oft so abgeschliffen durch unser Leben, dass wir blind dafür geworden sind, was um uns herum geschieht.
Gut gibt es die Literatur, die uns dieses Staunen wieder lehrt und die distanzierenden Mauern zur Aussenwelt einzureissen vermag.