Die Völkerrechtlerin Nina Burri untersucht für das Hilfswerk «Brot für alle» Menschenrechtsverletzungen von internationalen Unternehmen. Das Rüstzeug dafür hat sie sich am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag geholt – bei Recherchen über Kriegsverbrechen.
Hier wie dort geht es darum, harte Fakten zusammenzutragen und mit Opfern ins Gespräch zu kommen.
SRF: 2018 wurden Sie vom Aussendepartement für zwei Jahre an den Internationalen Strafgerichtshof geschickt, der sich mit schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit befasst. Wie sah dort Ihre Arbeit als Assistenz-Staatsanwältin aus?
Die Staatsanwaltschaft trägt Fakten zu den Fällen zusammen und vertritt die Anklage vor Gericht. Ich darf nicht sagen, an welchen Fällen ich gearbeitet habe, da ich zu Verschwiegenheit verpflichtet bin.
Es gibt Delikte, die mir besonders nahe gehen: Verbrechen an Kindern und sexuelle Gewalt.
Aber ich kann sagen, dass ich sehr viele Beweismittel zu Straftaten analysiert habe. Das waren vor allem Videos und Audiodateien mit Hinweisen auf Folter, Inhaftierungen, Vertreibungen oder andere Kriegsverbrechen. Wir haben geprüft, ob diese Puzzleteile als Beweise vor Gericht ausreichen und wer für welche Straftaten angeklagt werden soll.
Sie waren Tag für Tag mit schrecklichen Szenen der Gewalt konfrontiert. Wie sind Sie damit umgegangen?
Es gibt Delikte, die mir besonders nahe gehen: Verbrechen an Kindern und sexuelle Gewalt. Ich habe bei dieser Arbeit aber einen konkreten Auftrag und schaue die Beweise durch eine professionelle Brille an. Das schafft Distanz.
Sie haben auch vor Ort recherchiert und Zeugen befragt. Wie gingen Sie dabei vor?
Es braucht viel Vorbereitung. Man muss abklären, wie man die Zeugen und sich selbst schützt. Wo kann man sich unerkannt treffen? Was braucht es für Sicherheitsvorkehrungen? Gibt es kulturelle Gepflogenheiten, die man beachten muss: Wie nahe sitzt man? Gibt man sich die Hand? Darf man sich in die Augen schauen?
Wer geübt ist, entwickelt ein Sensorium für bestimmte Formulierungen.
Bei den Befragungen muss man geduldig sein und mit viel Empathie schnell ein Vertrauensverhältnis herstellen können. Und man muss wissen, wie welche Themen angesprochen werden können, damit es nicht zu einer weiteren Traumatisierung kommt.
Wie können Sie wissen, ob Sie Aussagen von Opfern richtig interpretieren, gerade wenn diese nicht explizit sind?
Dafür braucht es viel Erfahrung und Schulung. Wer geübt ist, entwickelt ein Sensorium für bestimmte Formulierungen.
In einem Strafverfahren braucht es explizite und klare Aussagen, um die Schuld eines Angeklagten zu beweisen.
Sexuelle Gewalt wird oft nicht explizit angesprochen, sondern umschrieben. Viele Überlebende solcher Verbrechen kämpfen mit Schuldgefühlen oder Scham. Aber mittlerweile weiss man: In praktisch jedem Konflikt kommt es zu sexueller Gewalt. Oft nicht nur an Frauen, sondern auch an Männern.
Juristisch ist es dann wichtig, genau nachzufragen. In einem Strafverfahren braucht es explizite und klare Aussagen, um die Schuld eines Angeklagten zu beweisen.
Heute sind Sie für das Hilfswerk «Brot für alle» tätig. Von einem internationalen Strafgericht zu einem evangelischen Hilfswerk – wie kam es zu diesem Szenenwechsel?
Beide Tätigkeiten haben einiges gemeinsam. Bei «Brot für alle» untersuche ich Menschenrechtsverletzungen im Ausland von Unternehmen mit Sitz in der Schweiz. Auch hier recherchiere ich gemeinsam mit unseren Partnerorganisationen vor Ort, sammle Beweismittel und befrage Opfer. Dabei geht es zum Beispiel um Umweltschäden, zerstörte Felder und Häuser, Krankheits- und Todesfälle.
Kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie war ich im Kongo. Dort war es in Kobalt-Minen von Tochterfirmen des Rohstoffkonzerns Glencore zu Unfällen gekommen, die wir untersucht haben. Es geht auch bei dieser Arbeit darum, Menschen darin zu unterstützen, zu ihrem Recht zu kommen.
Das Gespräch führte Sabine Bitter.