Von einer «absoluten Verrohung der Sitten» sprach Bundesrätin Karin Keller-Sutter angesichts der Härte des Abstimmungskampfs zum Covid-Gesetz Ende November. Statt Argumente wurden nicht selten Drohungen und Beleidigungen geäussert.
Ein Gespräch mit dem Politik-Analysten Mark Balsiger über werkelnde Wutbürger und die Diskussionswaffe Internet.
SRF: Eine «Absolute Verrohung der Sitten», teilen Sie diese Einschätzung?
Mark Balsiger: Der Diskurs, insbesondere in den sozialen Medien, hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Da sind viele Wutbürger am Werk. Früher sassen sie im «Bären», fluchten und liessen ihre Fäuste auf den Tisch krachen. Heute sitzen sie allein in ihren Wohnungen, vor ihren Computern. Sie sind frustriert und lassen Dampf ab.
Oft wird ein Gegner als inkompetent dargestellt und persönlich angegriffen, Wissenschaftler werden herabgesetzt. Was passiert da?
Stetig werden Grenzen verschoben und Tabus gebrochen. Das Muster ist immer dasselbe: Es geht um Schwarz oder Weiss, Freund oder Feind, richtig oder falsch. Das Polarisierende hat sich hochgeschaukelt.
Wir sind misstrauischer geworden. Viele glauben nicht mehr, was die Behörden sagen.
Das Internet, ursprünglich als Demokratisierungsinstrument gedacht, ist eine mächtige Schleuder von Hass und Wut geworden. Leider wird es auch genutzt, unversöhnliche Äusserungen und Falschinformationen zu verbreiten.
Dabei existieren viele Möglichkeiten, sich bei seriösen Quellen zu informieren.
Ja, aber das ist aufwendig. Auch die journalistische Arbeit, alle Informationen sorgfältig zu prüfen, ist aufwendig. Aufgrund des Produktionsdrucks kommt es immer wieder zu Fehlern. Deswegen sind die Medien speziell am Pranger. Besonders bei den Leuten, die den Autoritäten, den Medien, den Parteien und anderen etablierten Akteuren nicht mehr glauben.
Woher rührt dieses Misstrauen?
Die lange Phase der Pandemie hat viele Gewissheiten über Bord geworfen, sie hat uns erschüttert, bis in unsere kleinste Zelle, die Familie. Wir fürchten um unsere Gesundheit. Viele Leute haben ein Problem, mit diesen Ungewissheiten umzugehen. Sie lasten schwer auf uns und zwar dauerhaft.
Es gibt zu fast jedem Thema mehr Gemeinsames als Trennendes.
Wir sind misstrauischer geworden. Das alles hat mit uns etwas gemacht. Ventile sind aufgegangen. Viele glauben nicht mehr, was die Behörden sagen.
Sie beraten Politiker und Organisationen in Sachen Kommunikation. Was raten Sie Ihren Klienten in diesem aufgeheizten Diskussionsklima?
Sich im Ton zu mässigen. Das gilt nicht nur für jetzt. Mässigung ist dauerhaft nicht nur ein Gebot des Anstandes, sondern der schweizerischen Kultur. Es ist zentral, auf die Sache zu fokussieren und daran zu arbeiten. Lärm und Aufgeregtheit bringen nichts, der Inhalt verpufft so innerhalb von 48 Stunden.
Man muss sich auch bewusst sein: Der Nationalrat ist eine Theaterbühne. Die Meinungen sind längst gemacht. Auf der Bühne wird gestritten, danach trinken die Streithähne zusammen ein Bier. Das muss man auch vermitteln.
Was können wir alle tun, damit politische Diskussionen wieder fruchtbarer werden – und weniger gehässig?
Jeder Staatsbürger, jede Staatsbürgerin in unserem Land und Organisationen, die sich dem Dialog verschrieben haben, müssen ihre Stimme erheben. Und zwar versöhnend, denn es gibt zu fast jedem Thema mehr Gemeinsames als Trennendes. Da sind auch die Medien stark in der Verpflichtung. Die meisten davon bilden lieber den Konflikt ab. Konstruktiver Journalismus wäre ein Ausweg.
Wichtig ist auch, dass Debatten nah bei den Leuten stattfinden. Die Menschen in diesem Land sind empfänglich für vernünftige Botschaften. Wir alle müssen das Gespräch suchen, einander zuhören und respektvoll miteinander umgehen.
Das Gespräch führte Raphael Zehnder.