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Schweizer Saisonnierstatut Saisonniers mussten sich zwischen Arbeit und Familie entscheiden

Wegen dem Saisonnierstatut lebten Kinder von den Eltern getrennt oder mussten sich verstecken. Heute fordern sie Gerechtigkeit.

Es gibt Gesetze, die Familien auseinanderreissen. Das sogenannte «Saisonnierstatut» war eines davon. Besonders zum Tragen kam es in der Nachkriegszeit, in den 1950er- bis 1980er-Jahren.

Die Schweiz lies damals dringend benötigte Arbeitskräfte aus dem Ausland kommen. Zugleich wollte die Politik verhindern, dass sich die Menschen längerfristig niederlassen und eine Heimat finden. Der Familiennachzug wurde verboten oder erheblich erschwert.

Seitenansicht einer Frau mit Schal und Ohrringen
Legende: Die Autorin Melinda Nadj Abonji engagiert sich im Verein «Tesoro» für die Betroffenen des Saisonnierstatuts. imago images

«Dieses Gesetz hat uns Kinder illegalisiert», sagt Schriftstellerin und Musikerin Melinda Nadj Abonji. Dennoch habe sie lange gebraucht, um zu realisieren, dass es moralisch falsch gewesen sei.

Ein Gesetz wie eine Wand

Nadj Abonji ist Vorstandsmitglied des anfangs Oktober gegründeten Vereins «Tesoro». Er vertritt die Interessen der Familienmitglieder, die vom Schweizer Saisonnierstatut und Jahresaufenthalterstatut betroffen waren.

Erst, als ihre Eltern schon in die Schweiz gezogen waren, hätten sie realisiert, dass sie ihre Kinder nicht nachholen dürfen, erzählt die Autorin. «Plötzlich stand dieses Gesetz zwischen uns wie eine unüberwindbare Wand.»

Ein Mann reicht einer Frau ein grosses Paket durch ein Zugfenster.
Legende: Gastarbeiter aus dem ehemaligen Jugoslawien besteigen am 18. Dezember 1976 am Zürcher Hauptbahnhof einen Zug Richtung Belgrad, um die Weihnachtstage in der Heimat zu verbringen. Keystone/Photopress-Archiv

Schliesslich waren sie und ihr Bruder während vier Jahren von den Eltern getrennt. Die strukturelle Gewalt, die in diesem Gesetz steckte, sei bis heute für viele Familien kaum bewältigbar, so Nadj Abonji.

«Unsere Eltern waren praktisch rechtlos»

Auch Egidio Stigliano war von dem Gesetz betroffen. Heute arbeitet er als Neuropädagoge in St. Gallen. Als Kind musste er sich im Wald oder in der elterlichen Wohnung verstecken. Seine Eltern waren Saisonniers. Ein Familienleben war ihnen verboten.

Das Gesetz sei ein unmenschliches Attentat auf die Familien gewesen, sagt Stigliano: «Unsere Eltern haben dieses Land aufgebaut, aber sie waren praktisch rechtlos.» Auch der Neuropädagoge engagiert sich bei Tesoro.

Männer stehen in einer Kantine an
Legende: Arbeiter beim Mittagessen in der Kantine, aufgenommen in den 1970er-Jahren beim Bau des Gotthard-Strassentunnels. Keystone/Photopress-Archiv

Paola De Martin, die Präsidentin des Vereins, kam zwar in der Schweiz zur Welt. Da der Vater Saisonnier war, hatte er jedoch kein Anrecht auf Familiennachzug. Die Geburt galt deshalb als «illegaler Familiennachzug». Die Eltern mussten sich vom Säugling trennen.

«Meine Mutter hat versucht, mich hier in einer Krippe unterzubringen, aber niemand wollte mich aufnehmen», erklärt De Martin. Deshalb sei sie gezwungen gewesen, ihre Tochter im Alter von drei Monaten bei einem Onkel in Italien zurückzulassen. «Für eine Mutter ist das traumatisch.»

Eine unerträgliche Wahl

Wie ein Messer sei das Gesetz durch Familien gegangen, so die Vereinspräsidentin. Es stellte die Eltern vor eine unerträgliche Wahl: Entweder die eigenen Kinder in der alten Heimat zurücklassen oder sie heimlich über die Grenze in die Schweiz bringen und verstecken.

Beides sei mit tiefen Schuld- und Schamgefühlen verbunden gewesen. «Deswegen fällt das Reden über jene Zeit auch so schwer. Die Verletzungen gehen tief.»

Der Verein «Tesoro» versucht eine Sprache für das Erlebte zu finden. Gleichzeitig will er das politische Schweigen der Schweiz brechen. Die Schweiz solle das entstandene Leid offiziell anerkennen, sich entschuldigen und Betroffene gegebenenfalls auch finanziell entschädigen, fordert der Verein.

Der politische Prozess steht allerdings noch ganz am Anfang. Das zeigt sich auch aufseiten der Behörden. Dort sind die Forderungen von «Tesoro» noch kein Thema, da es noch keine politischen Vorstösse dazu gibt.

So funktionierte das Saisonnierstatut

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  • Das Saisonnierstatut war ein Instrument, um Kurzaufenthaltsbewilligungen für ausländische Arbeitskräfte zu regeln. Es schreib vor, dass Arbeiterinnen und Arbeiter während höchstens neun Monaten in der Schweiz arbeiten konnten und dann das Land für mindestens drei Monate verlassen mussten, bevor sie erneut zurückkommen konnten. Der Familiennachzug war verboten. Ebenso der Wechsel der Arbeitsstelle und des Wohnortes.
  • Das Gesetz war von 1934 bis 2002 in Kraft, bis zum Beginn der Personenfreizügigkeit mit der EU.
  • Mit dem Saisonnierstatut konnten Schweizer Unternehmen ausländische Angestellte während einiger Monate pro Jahr (eine Saison) beschäftigen.
  • Arbeitskräfte wurden nach wirtschaftlichem Bedarf in die Schweiz geholt, beispielsweise in der Industrie, im Baugewerbe oder im Tourismus.
  • In der Hochkonjunktur in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg stieg der Bedarf an Saisonniers stark.
  • Später konnte nach einigen Jahren eine Jahresbewilligung beantragt werden, womit auch der Familiennachzug theoretisch möglich wurde. Die Hürden blieben allerdings hoch und für viele blieb der Familiennachzug unerreichbar.

Radio SRF 2 Kultur, 07.12.2021, 09:03 Uhr.

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