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Wie geht der richtige Plural?
Aus Kultur Webvideos vom 01.03.2019.
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Schweizerdeutsch im Wandel Wir müssen über «Chätzlis» reden

Es ist nur ein kleines S. Aber eines, das gross in Mode ist. Was verändert sich da gerade im Schweizerdeutschen?

«Chätzlis». Die Kinder streicheln sie – und dem Vater sträuben sich die Nackenhaare. Müsste das nicht «Chätzli» heissen? Gewiss, wir haben auch andere Probleme zuhause. Oder «Problemlis», wie meine nicht auf den Mund gefallenen Kleinen bald sagen werden, wenn sie so weitermachen.

Und nicht nur sie. «Hey Wichsers!» heisst das Album der Ostschweizer Mundart-Combo Knöppel. «Hey Schätzlis» säuselt die Influencerin. Die Kollegen bestellen «Kafis» in der Kantine. An der Wand eines Kleintierstalls in Zürich steht auf einem Merkblatt: «Hier wohnen 15 Häslis und 17 Meersäulis.»

Fehlt nur noch, dass Journalisten darüber «Sätzlis» brünzeln.

LKWs und Lehrers

Die «Chätzlis» und die «Schätzlis». Auch Markus Gasser hat sie auf dem Schirm – von Berufs wegen. Erst mal zwei «Sächeli» aus dem Munde des Mundartexperten bei SRF: «Der Boom des sogenannten ‹Endungs-S› hat mit dem Einfluss des Englischen zu tun. Und damit, dass wir ‹s Müllers› und ‹s Gerbers› sagen.»

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Rösser, Themene und Lehrers. Leidet die Mundart an «Pluralitis»?
aus Dini Mundart Schnabelweid vom 28.02.2019. Bild: colourbox
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Diese Form sei auch dem Hochdeutschen nicht fremd. Und so beliebt, dass sie sich auf andere Wörter ausbreite. Zunächst auf solche, die mit einem Vokal enden: unsere «Chätzlis», Babys und Pizzas, mittlerweile hängen wir das Plural-S auch LKWs an. Und sogar den Lehrers.

Markus Gasser

Markus Gasser

SRF-Mundartexperte

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Markus Gasser (Jg. 1966), aufgewachsen in Nunningen/SO, in und mit dem Dialekt des Schwarzbubenlandes. Studium der Germanistik und Geschichte an der Universität Basel. Abschluss mit einer namenkundlich-historischen Dissertation über den Berg «Hohe Winde». Spezialisierung auf Dialektologie, Flurnamenforschung und Lexikographie an der Uni Basel. Mitarbeit unter anderem am «Neuen Baseldeutsch-Wörterbuch», am «Flurnamenbuch des Kantons Solothurn», am «Variantenwörterbuch des Deutschen». Daneben vielfältige Aktivitäten als Theaterregisseur, Theaterpädagoge und Sänger. Seit 2012 als Mundartspezialist in der Literaturredaktion von SRF.

Bedürfnis nach Klarheit

Was aber braucht es, damit sich so ein, nun ja, halbfremder Fötzel wie das Endungs-S im Schweizerdeutschen fröhlich weiter fortpflanzt?

«S Müllers» und der Druck des Englischen sind das Eine. Gasser will ganz grundsätzlich «ein gesteigertes Bedürfnis nach eindeutigen Mehrzahlformen im Schweizerdeutschen» ausgemacht haben.

Es zeige sich etwa im allmählichen Verschwinden des, Vorsicht, «Nullplurals». Wir sagen, sagt Markus Gasser, zum Beispiel schon lange «d’Ört» – oder sogar «d’Örter» statt «d’Ort». Aus «füüf Ross» sind längst «füüf Rösser» geworden.

Der hundskommune Deutschschweizer wird so selbstverständlich «Themene» sagen, wie er schon lange «Chuchene» putzt. Und die meisten, so Gasser, bemerken solche Sprachveränderungen gar nicht.

Leidet die Mundart an «Pluralitis»?

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Pluralformen wie «Rösser» oder «Jöbs» nehmen zu, bestätigt die Dialektologin Helen Christen. Allerdings sei dieser Prozess nicht neu, sondern seit Jahrhunderten im Gang. Ehemals starke Endungen bei Substantiven (Althochdeutsch «die zunga», «der zungun») sind heute stark abgeschwächt («die Zunge», «der Zunge»).

Weil im Dialekt auch das Endungs-n wegfällt, das im Hochdeutschen den Plural anzeigt («die Zungen»), kann sich eine markante Form wie «Zungene» verbreiten. Die vielgescholtene «Pluralitis» zeigt also nicht mangelnde Sprachkompetenz der Leute, sondern ist eine Wirkung der sogenannten «unsichtbaren Hand» des Sprachwandels.

Dieser Sprachwandel lässt sich an folgenden Pluralformen beobachten:

  • Endsilbe «-ene» («Frauene», «Stubene») bei weiblichen Substantiven. Dabei wird der bisherige Spezialfall «Feminina mit -i-Endung» (Chuchi > Chuchene) auf andere Feminina ausgeweitet.
  • Ein Umlaut ersetzt bei Maskulina den sogenannten «Nullplural», also den Fall, dass Einzahl und Mehrzahl identisch sind: «acht Ört» oder sogar «Örter» statt «acht Ort».
  • Die Endung «-er» ersetzt den Nullplural vor allem bei Neutra: «Äis Chind» - «acht Chinder» (statt «acht Chind»).
  • Das Endungs-s wird vor allem an Substantive gehängt, die auf einen starken Vokal enden. Das sind oft Fremdwörter oder Verkleinerungen: «Chätzlis», «Bäbis», «Velos». Nicht nur der Einfluss des Englischen befördert dieses Plural-s. Sondern ebenso die weit verbreitete Familienbezeichnung wie z.B. «s Müllers». Diese ursprüngliche Genitivform, eigentlich «des Müllers Familie», wird heute als Plural aufgefasst. Eine Pluralform, die sich auf andere Wörter ausdehnt.

(Markus Gasser)

«Pragmatisch falsch»

Gibt es überhaupt richtig und falsch in einer Sprache wie dem Schweizerdeutschen, für das es noch nicht einmal eine verbindliche Rechtschreibung gibt?

Entschiedenes Kopfschütteln. Bei unserem Endungs-S könne man allenfalls von «pragmatisch falsch» sprechen, sagt Gasser. Will heissen: Im Deutschen ist das Endungs-S nicht neu, «es hat nur seinen Geltungsbereich ausgeweitet.» Und zwar massiv.

Zwei Pferde im Nebel auf einer Weide.
Legende: «Ross», «Rösser», «Rössers»? Das Schweizerdeutsch strebt nach starken Pluralformen. Keystone

Gasser selbst nimmt die Veränderung gelassen hin – wie jede andere auch. Sprachen verändern sich nun mal, seit man sie betrachten kann. Und ziemlich genau so alt ist die Angst, sie werden schlechter, falscher und überfremden.

Zukunftsmusik

Wie Schweizerdeutsch wird das Schweizerdeutsch in 100 Jahren noch tönen? Markus Gasser verweist auf eine Prognose der UNESCO. Die besagt: In 100 Jahren werden drei Viertel aller Sprachen ausgestorben sein.

Wenn das stimme, dann sei das Schweizerdeutsche mittelfristig zumindest gefährdet.

Noch lebt es aber, auch die Zunahme der «Chätzlis» und «Schätzlis» beweist es. Wo das hinführt – es ist nicht abzusehen. Nicht erschrecken also, wenn demnächst ein paar «Rössers» die Sprachgegend unsicher machen.

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