«Mein Mitbewohner hat mir vor kurzem erzählt, dass er nachts, wenn er nicht schlafen kann, einen Spaziergang am Rheinufer entlang macht – danach schlafe er wie ein Baby. Ich könnte mir nie vorstellen, mitten in der Nacht draussen allein einen Spaziergang zu machen.»
Diese Aussage stammt von einer jungen Frau, die für das Projekt « Raum für alle » ihre Gedanken unterwegs auf der Strasse mit dem Smartphone aufgenommen hat. Diese und weitere Audioaufnahmen von Frauen zeigen, wie unterschiedlich der öffentliche Raum je nach Geschlecht wahrgenommen wird.
Eine vermeintliche Normalität beenden
Hinter dem Projekt stehen Annick Senn und Larissa Bucher. Beide haben schon Belästigungen und Grenzüberschreitungen im öffentlichen Raum erlebt. Das Problem: Solche Handlungen können gesetzlich nicht geahndet werden.
«Ich kann für die Mehrheit der Frauen und weiblich gelesenen Personen sprechen, dass man seit der Pubertät mit Pfeifen und Anmachsprüchen konfrontiert wird, mit grenzüberschreitenden Handlungen im Ausgang. Die Gesellschaft nimmt das einfach so hin, es ist Normalität», sagt Annick Senn.
Gegen diese vermeintliche Normalität richtet sich ihre Sensibilisierungskampagne. Die beiden jungen Frauen sind nicht die einzigen, die in jüngster Zeit auf das Thema Gleichstellung im öffentlichen Raum aufmerksam machen wollen.
Zivilcourage fördern
In der Romandie und in Zürich gibt es seit kurzem Online-Meldetools, mit denen Betroffene oder Zeuginnen derartige Grenzüberschreitungen anonym registrieren können. Martha Weingartner von der Fachstelle für Gleichstellung in Zürich sagt, das allein helfe den Betroffenen bereits.
Beim Projekt «Zürich schaut hin» gehe es auch darum, die Zivilcourage der Menschen zu fördern. «Nicht wegschauen, sondern aktiv werden», sagt Weingartner. Dazu sei man in engem Austausch mit vielen Allianzpartnern: etwa mit der offenen Jugendarbeit, mit Clubs und Bars, aber auch mit Schulen und LGBTQ-Organisationen.
Gendergerechte Stadtplanung
Neben Sensibilisierungskampagnen gibt es auch eine konkrete Massnahme, die das Sicherheitsgefühl aller Menschen im öffentlichen Raum steigern kann: die gendergerechte Stadtplanung.
Stephanie Tuggener ist Co-Präsidentin des Vereins Lares. Dieser setzt sich dafür ein, dass alle Menschen einen gleichen Zugang zu öffentlichen Orten haben. Beim Bau des Pfingstweidparks in Zürich stand Lares zum Beispiel beratend zur Seite.
«Ein wichtiges Kriterium für ein hohes Sicherheitsgefühl ist die Orientierung – dafür sorgt der Rundweg um den Park herum. Zudem ist eine ausreichende Beleuchtung sehr wichtig und eine freie Sicht auf alle Ecken des Areals», sagt Tuggener: «Dafür sorgen die Abstände zwischen den Bäumen.»
Langer Weg zur Gleichstellung im öffentlichen Raum
Gendergerechte Stadtplanung, Prävention und Sensibilisierung: Ein Strauss von Massnahmen auf individueller, gesellschaftlicher und struktureller Ebene ist notwendig, damit der öffentliche Raum von allen Gruppen der Gesellschaft mit dem gleichen Selbstverständnis genutzt werden kann.
Annick Senn von «Raum für alle» zieht nach dem ersten Jahr seit Projektstart ein positives Fazit: «So viele Männer haben mir gesagt, dass ihnen das Problem zwar bewusst war, aber nicht in diesem Ausmass. Als sie die Audioaufnahmen auf unserer Webseite hörten, erkannten sie, was es wirklich bedeutet, sich als junge Frau im öffentlichen Raum zu bewegen.»