Ein Mädchen bekommt den Göttibatzen regelmässig zwischen die Schamlippen gesteckt. «Ins schönste Sparschwein der Welt», sagt der Götti, mit dem man sonst ganz toll spielen kann. Ein Junge wird vom Stiefvater ins Schlafzimmer gebeten, damit er sieht, was ein Mann zu tun hat, wenn er einer Frau zeigen will, wie sehr er sie liebt. Seit der Stiefvater da ist, weint die Mama fast nie mehr.
Das Mädchen und der Junge erschrecken und schweigen.
Fünf Gründe für das Schweigen
1. Schuldgefühle
Während die Täter ihre Taten in der Regel verleugnen, bagatellisieren oder umdeuten, fühlen sich die allermeisten Opfer sexueller Übergriffe schuld an dem, was war. Und wer erzählt schon freiwillig über etwas, das er vermeintlich verbrochen hat?
2. Die fehlende Sprache
Vielfach fehlt den betroffenen Kindern noch die Sprache, um auszudrücken, was sie so enorm verwirrt. Das Risikoalter für sexuelle Gewalt liegt nämlich vor der Pubertät.
3. Täterschutz
Viele Kinder reden auch nicht über das was sie innerlich so zerfrisst, weil sie damit verhindern können, dass beispielsweise der Vater ins Gefängnis kommt, dass sie in ein Heim gesteckt werden, dass die Familie auseinanderbricht, oder dass andere davon wissen. Das Schweigen gibt ihnen auch Kontrolle über das Geschehen.
4. Todesangst
Nicht selten schweigen Kinder auch unter Todesdrohung. Sie hören: wenn du das erzählst, bringe ich mich um, bringe ich dich um, oder uns alle. Oder dein geliebtes Haustier.
5. Gefühlsambivalenz
Eine ganz wesentliche Rolle beim Schweigen der betroffenen Mädchen und Jungen spielen ihr eigenen Gefühlsambivalenzen. Sie befinden sich in einem Gefühlsdschungel von Widersprüchen. Auf der einen Seite erlebt das Kind: ich werde ausgenutzt. Andrerseits und gleichzeitig erfährt es: ich werde bevorzugt. Die Gefühle von Kindern können in solchen Situationen äusserst widersprüchlich sein.
Die widersprüchlichen Gefühle, die das Kind erlebt
Ich werde misshandelt | Ich bekomme besondere Zuwendung |
Ich werde erniedrigt | Ich werde aufgewertet |
Ich werde bedroht | Ich muss andere schützen |
Ich bin isoliert | Ich stehe im Mittelpunkt |
Ich muss schweigen | Ich möchte schreien |
Ich mache mit | Ich möchte mich wehren |
Ich bin klein und hilflos | Ich bin gross und trage Verantwortung |
Ich werde verleumdet | Ich werde verklärt |
Ich schütze andere | Ich brauche Schutz |
Ich möchte zerstören | Ich muss erhalten |
Ich erlebe Ekel | Ich erlebe angenehme Gefühle |
Wer hilfreich sein will, muss um diesen Emotionsdschungel wissen. Das ist nicht einfach. Ganz besonders schwierig ist es für Helfende, zu akzeptieren, dass die meisten kindlichen Opfer zu den Ausbeutenden nicht nur in einem Vertrauens-, sondern auch in einem Liebesverhältnis stehen. Sie möchten oft nicht, dass der Vater, der grosse Bruder, der Lehrer für lange hinter Gittern verschwinden, sie wollen nur, dass um alles in der Welt diese Verletzungen, diese Momente der Angst und Verwirrung, diese grauenvolle Form von Isolation und dieses Ausgeliefertsein ein Ende haben.
Ein Grund, das Schweigen zu brechen
Kinder können heute in der Regel davon ausgehen, dass man ihnen glaubt, wenn Sie vom seltsamen Göttibatzenritual erzählen. Oder vom erzwungenen Voyeurismus im Schlafzimmer. Die Aufklärungsarbeit in den letzten Jahrzehnten zeitigt Erfolge. Zum Glück.