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Ein Kind liegt im Bett, die weisse Decke über den Kopf gezogen.
Legende: Viele Kinder reden nicht, wenn sie missbraucht worden sind. Weil Schweigen auch Kontrolle bedeutet. Keystone
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Gesellschaft & Religion Sexueller Missbrauch: Warum Kinder schweigen

Die Zahlen sind erschreckend: Sexuelle Gewalt an Kindern ist häufig. Die Gewalttat ist immer mit einem Redeverbot verbunden. Fatalerweise befolgen das die allermeisten Opfer. Sie halten den Mund. Oft jahrelang. Warum nur?

Ein Mädchen bekommt den Göttibatzen regelmässig zwischen die Schamlippen gesteckt. «Ins schönste Sparschwein der Welt», sagt der Götti, mit dem man sonst ganz toll spielen kann. Ein Junge wird vom Stiefvater ins Schlafzimmer gebeten, damit er sieht, was ein Mann zu tun hat, wenn er einer Frau zeigen will, wie sehr er sie liebt. Seit der Stiefvater da ist, weint die Mama fast nie mehr.
Das Mädchen und der Junge erschrecken und schweigen.

Fünf Gründe für das Schweigen

1. Schuldgefühle

Während die Täter ihre Taten in der Regel verleugnen, bagatellisieren oder umdeuten, fühlen sich die allermeisten Opfer sexueller Übergriffe schuld an dem, was war. Und wer erzählt schon freiwillig über etwas, das er vermeintlich verbrochen hat?

2. Die fehlende Sprache

Vielfach fehlt den betroffenen Kindern noch die Sprache, um auszudrücken, was sie so enorm verwirrt. Das Risikoalter für sexuelle Gewalt liegt nämlich vor der Pubertät.

3. Täterschutz

Viele Kinder reden auch nicht über das was sie innerlich so zerfrisst, weil sie damit verhindern können, dass beispielsweise der Vater ins Gefängnis kommt, dass sie in ein Heim gesteckt werden, dass die Familie auseinanderbricht, oder dass andere davon wissen. Das Schweigen gibt ihnen auch Kontrolle über das Geschehen.

4. Todesangst

Nicht selten schweigen Kinder auch unter Todesdrohung. Sie hören: wenn du das erzählst, bringe ich mich um, bringe ich dich um, oder uns alle. Oder dein geliebtes Haustier.

5. Gefühlsambivalenz

Eine ganz wesentliche Rolle beim Schweigen der betroffenen Mädchen und Jungen spielen ihr eigenen Gefühlsambivalenzen. Sie befinden sich in einem Gefühlsdschungel von Widersprüchen. Auf der einen Seite erlebt das Kind: ich werde ausgenutzt. Andrerseits und gleichzeitig erfährt es: ich werde bevorzugt. Die Gefühle von Kindern können in solchen Situationen äusserst widersprüchlich sein.

Die widersprüchlichen Gefühle, die das Kind erlebt

Ich werde misshandeltIch bekomme besondere Zuwendung
Ich werde erniedrigtIch werde aufgewertet
Ich werde bedroht    Ich muss andere schützen
Ich bin isoliertIch stehe im Mittelpunkt
Ich muss schweigenIch möchte schreien
Ich mache mitIch möchte mich wehren
Ich bin klein und hilflosIch bin gross und trage Verantwortung
Ich werde verleumdetIch werde verklärt
Ich schütze andere    Ich brauche Schutz
Ich möchte zerstörenIch muss erhalten
Ich erlebe EkelIch erlebe angenehme Gefühle

Wer hilfreich sein will, muss um diesen Emotionsdschungel wissen. Das ist nicht einfach. Ganz besonders schwierig ist es für Helfende, zu akzeptieren, dass die meisten kindlichen Opfer zu den Ausbeutenden nicht nur in einem Vertrauens-, sondern auch in einem Liebesverhältnis stehen. Sie möchten oft nicht, dass der Vater, der grosse Bruder, der Lehrer für lange hinter Gittern verschwinden, sie wollen nur, dass um alles in der Welt diese Verletzungen, diese Momente der Angst und Verwirrung, diese grauenvolle Form von Isolation und dieses Ausgeliefertsein ein Ende haben.

Ein Grund, das Schweigen zu brechen

Kinder können heute in der Regel davon ausgehen, dass man ihnen glaubt, wenn Sie vom seltsamen Göttibatzenritual erzählen. Oder vom erzwungenen Voyeurismus im Schlafzimmer. Die Aufklärungsarbeit in den letzten Jahrzehnten zeitigt Erfolge. Zum Glück.

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