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So tun als ob Aufgesetzt und aufgeblasen: Warum wir bluffen müssen

Der Mensch unserer Zeit ist ein «Bluff-Mensch». Das sagt der Soziologe Manfred Prisching. Und beruhigt uns: Das ist nicht nur okay, sondern auch notwendig.

Ein Bluff ist gemäss Definition «eine falsche Drohung oder Behauptung, die dazu dient, jemanden abzuschrecken oder zu täuschen». Bluffen darf man nicht – ausser beim Pokern und bei Gefahr. Oder?

Der Soziologe Manfred Prisching sieht das ganz anders. Für ihn ist Bluffen ein «brauchbarer sozialer Interaktionsmechanismus». Wir Menschen als gesellschaftliche Wesen sind Pokerspieler, die bluffen können müssen, und wissen, dass es auch die anderen können und tun.

Der Bluff als Ausweg

In seinem Buch «Bluff-Menschen» geht Manfred Prisching drei Fragen nach: Wie wird heute geblufft? Warum ist Bluffen allgegenwärtig? Und was bewirkt der grosse Bluff?

Eigentlich, so Prisching, hätten wir es mit dem Urproblem der Soziologie zu tun: Individuum und Gesellschaft stehen in einer Spannung zueinander. Der oder die Einzelne sind vielfältigen Rollenerwartungen ausgesetzt, haben aber auch den unstillbaren Drang nach Willensfreiheit, Autonomie und Individualität.

Während diese Spannung früher im Sinne eines Kompromisses erträglich gemacht werden konnte, sei dies heute nicht mehr möglich, so Prisching. Der Grund: die gegenüber früher ins Extreme gesteigerte Komplexität der gesellschaftlichen Strukturen.

Unser Ausweg ist der Bluff: «Der Fortbetrieb unserer Gesellschaft kann durch das probate Mittel des Bluffs sichergestellt werden.» Bluff ist also das Mittel, die «pointierte Individualisierungsideologie mit den Bedingungen einer komplexen Gesellschaft kompatibel zu machen».

Politischer Bullshit

In zwölf Kapiteln seziert Prisching den heutigen Bluff. Das geht von der Vorspiegelung des wahren Selbst (ein Bluff), über die Romantisierung der Arbeitswelt (ein Bluff), bis zum politischen Bluff, der in «Desinteresse an Richtigkeit» und «politischen Bullshit» umschlägt.

Buchhinweis

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Manfred Prisching: «Bluffmenschen. Selbstinszenierungen in der Spätmoderne». Beltz Juventa, 2019.

Prischings gedankliches und sprachliches Stilmittel ist dabei das Paradox – denn nur dieses beschreibt den Mechanismus, wie wir ganz Unterschiedliches zu einem Ganzen machen können: etwa mit Begriffen wie «Regelhaftigkeit des Spontanen» oder «Veralltäglichung von Ekstase».

Der kleine Bruder des Vertrauens

Das alles sind Tricks, wie wir unser Selbstbild stabilisieren und uns trotz Widersprüchen gut fühlen können. Was aber bewirkt der Bluff im Zusammenleben, in der Interaktion mit den anderen?

Prisching beruhigt uns. Am Beispiel eines Bewerbungsgesprächs, bei dem er selbst auf der Arbeitgeberseite sitzt, beschreibt er, wie Bluff zur Spielregel wird. Die Besonderheit der Spätmoderne liege eben gerade darin, dass «die Leistung, eine glaubwürdige Selbstinszenierung zustande zu bringen, als solche positiv bewertet und gewürdigt wird».

Damit erweist sich der Bluff als kleiner Bruder des Vertrauens, das – wie der Soziologe Niklas Luhmann sagte – ein «Mechanismus zur Verminderung sozialer Komplexität» sei. Bluffen, um Vertrauen zu erhalten, aber auch zu geben. Bluffen, um die zunehmende Unübersichtlichkeit und Unberechenbarkeit gesellschaftlichen Handelns zu überbrücken.

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