Ende Juli im französischen Senat: Die Lesung des Gesetzes zur Entwicklung der Wohnungspolitik – kurz ELAN – steht auf der Tagesordnung. Aus den Reihen der Opposition hagelt es Kritik und Änderungsanträge.
Die Abgeordneten werfen der Regierung vor, den sozialen Wohnungsbau auf Teufel komm raus zu deregulieren. «Auf Kosten der Qualität und einer pluralistischen Architektur», ruft ein Senator in den Plenarsaal.
In der 47. Etage des Pariser Tour Montparnasse wird die kontroverse Senatsdebatte aufmerksam verfolgt. Dort befinden sich die Büros der französischen Architektenkammer, die seit Monaten gegen das Gesetz ELAN Sturm läuft. Architekt Denis Dessus – seit einem halben Jahr Vorsitzender der Kammer – schimpft über eine destruktive Politik.
Ein Geschenk an die grossen Baukonzerne
Mit dem neuen Gesetz schaffe die Regierung eine Reihe gesetzlicher Rahmenvorschriften ab, die für einen umsichtigen und verantwortungsvollen Wohnungs- und Städtebau unverzichtbar seien. «Zugunsten der grossen Baukonzerne und den Promotern, die sich schon die Hände reiben», moniert der Chef der Architektenkammer.
Besonders scharf kritisiert der Verband den Wegfall der obligatorischen Architekten-Wettbewerbe, die im sozialen Wohnungsbau bisher öffentlich ausgeschrieben werden müssen. Eine bewährte Methode für mehr Transparenz, Vielfalt und Innovation, versichert die französische Architektenkammer. Werde sie kassiert, drohe ein Rückfall in die wenig ruhmreichen 1960er- und 1970er-Jahre.
Architektonische und soziale Schandflecken
Damals wurden in Frankreich massenweise Sozialwohnungen aus dem Boden gestampft. Vor allem in und um die Grossstädte entstanden riesige Plattenbau-Komplexe mit tausenden Wohnungen und die berüchtigten Banlieue-Trabantenstädte.
Die billigen Massenkonstruktionen gelten längst als städtebauliche Altlasten, die extrem hohe Kosten verursachen und eine Zumutung für die Menschen sind, die darin leben müssen. «Wir müssen verhindern, dass sich die politischen Fehlentscheidungen wiederholen», sagt Dessus. Deshalb hielten er und seine Kollegen es für ihre Pflicht, das Gesetz zu bekämpfen.
Schelte aus der Architektenszene
Bisher ohne nennenswerten Erfolg. Artikel in den grossen Tageszeitungen und Petitionen sind ins Leere gelaufen. Nicht einmal der offene Brief an Staatspräsident Emmanuel Macron, unterzeichnet von 300 französischen Architekten, hat Wirkung gezeigt.
In jenem Appell warnen die Stars der Branche wie Jean Nouvel und der Pariser Architekt Christian de Portzamparc einhellig vor neuen Bausünden. Sie brandmarken das Gesetzesvorhaben als eine Gefahr für den französischen Städtebau und das wichtige Kulturgut Architektur.
Der Zweck heiligt die Mittel
Die verantwortlichen Regierungspolitiker dementieren. Das neue Gesetz schaffe keine Probleme. Es helfe, sie zu lösen. Es fehlten mehrere Hunderttausend oder gar Millionen Sozialwohnungen, argumentiert der zuständige Staatssekretär Julien Denormandie: «Wir müssen schneller, besser und kostengünstiger bauen.»
Die massive Kritik der Architekten und Urbanisten habe vor allem mit mangelnder Flexibilität und ihrer Angst vor finanziellen Einbussen zu tun. «Unser Gesetz stellt keinesfalls die Rolle der Architekten in Frage. Aber künftig bestimmt die Wohnbaugesellschaft selbst, mit welchem Architekt sie wie zusammenarbeitet.»
Im September soll das umstrittene Wohnungsbau-Gesetz rechtskräftig werden. Dass es noch massgeblich von der parlamentarischen Opposition korrigiert wird – darauf besteht aufgrund der Mehrheitsverhältnisse wenig Hoffnung, bedauert Architekt Dessus.
Doch solange das Gesetz nicht endgültig verabschiedet ist, wollen er und seine Kollegen die Schlacht nicht aufgeben.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 8.8.2018, 17:10 Uhr.