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Soziologe Richard Sennett Einander zuhören, auch wenn man sich nicht mag

Richard Sennetts Kampf gegen die moderne Arbeitswelt und für den sozialen Zusammenhalt ist autobiografisch geprägt.

Mit seinem Bestseller «Der flexible Mensch» behauptete Richard Sennett bereits vor 20 Jahren, die moderne Arbeitswelt würde den Menschen innerlich kaputtmachen. Konkurrenzdruck, vermehrte Jobwechsel und unsichere Anstellungsbedingungen würden wichtige menschliche Tugenden wie Vertrauen, Fleiss und Verlässlichkeit verdrängen.

Der US-amerikanisch-englische Soziologe zog das Fazit: Die Biografien von immer mehr Menschen würden «fragmentiert».

Erster Traumberuf: Cellist

Sennett selbst wurde in jungen Jahren zur Flexibilität gezwungen. Nicht durch die Anforderungen der Arbeitswelt, sondern durch eine missglückte Operation an seiner linken Hand. Eigentlich wollte er Musiker werden. Cellist.

Dass er seine Berufung aufgeben musste, hat der 75-jährige zartfühlende Intellektuelle bis heute nicht verwunden. Er musiziert zwar wieder, aber sehr eingeschränkt.

Auch der Schlaganfall vor sechs Jahren warf ihn zurück. Sennett musste von Neuem lernen zu sprechen, zu gehen, das Cello zu halten.

Im Armenviertel aufgewachsen

Aufgewachsen ist Sennett in einem Armenviertel in Chicago, einem Pionierprojekt für sozialen Wohnungsbau. Seine Eltern waren russische Einwanderer, beide überzeugte Kommunisten. Die Mutter arbeitete als Sozialarbeiterin und zog ihren Sohn alleine auf.

Seine Kindheit prägt Sennetts Denken bis heute. Seine Bücher kreisen um die Frage, wie der soziale Zusammenhalt gestärkt und menschliches Zusammenleben gelingen kann.

Porträt Richard Sennett
Legende: Richard Sennett plädiert für das Handwerk – und schreibt seine Bücher konsequenterweise auch von Hand. Getty Images / Marco Secchi

Sozialer Zusammenhalt entsteht nach Sennett im Wesentlichen durch «Zusammenarbeit». So lautet denn auch der Titel eines seiner Bücher.

Vorbild Orchester

Als Vorbild für gelingende Zusammenarbeit dient für Sennett das Zusammenspiel im Orchester, bei dem die Musizierenden aufeinander eingehen, einander zuhören – auch wenn sie sich gegenseitig vielleicht nicht kennen oder nicht mögen.

Diese Art der Zusammenarbeit könne man heute noch bei Handwerkern in kleinen Werkstätten beobachten, bei Goldschmieden oder Geigenbauern etwa. Hier werde versucht, «eine Arbeit um ihrer selbst willen möglichst gut zu machen», so Sennett.

Aber genau diese Haltung, dieses Arbeitsethos, drohe zu verschwinden in neueren Berufen, die im Zuge der Digitalisierung entstanden sind. Den Verlust an Sinnlichkeit empfinden viele als Entfremdung.

Sennett plädiert in seinem Buch «Handwerk» darum für das alte Zusammenspiel von Hirn und Hand. Er selbst schreibt seine Bücher von Hand.

Zusammenarbeit – auch in der Stadt

Inspiration für sein Schreiben holt er sich, neben Gesprächen, beim handwerklichen Arbeiten im Garten oder der Küche.

Der Wohnort des oft nostalgisch wirkenden, humorvollen Meisterdenkers befindet sich aber nicht auf dem Land, sondern seit Jahren in New York und London. Städte sind für Sennett Orte, wo wir Fremden und Andersdenkenden begegnen und die Kunst der Zusammenarbeit üben können.

Doch leider, so der langjährige UNO-Berater, nimmt die Segregation in vielen Städten zu. Reiche leben woanders als Arme, Muslime woanders als Juden.

Es braucht mehr zufällige Begegnung

Es brauche mehr Durchlässigkeit, mehr städtebauliche Einladungen zum ungezwungenen Austausch, zur zufälligen Begegnung mit Andersdenkenden, fordert Sennett in seinem neuen Buch «Die offene Stadt». Es bildet den Abschluss seiner «Homo Faber»-Trilogie, die den Menschen als Macher ins Zentrum rückt.

Nun will Sennett endlich ein Buch schreiben über das, was ihm mehr am Herzen liegt als alles andere: die Musik.

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