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Shalini Randeria – Die polyglotte Globalisierungsversteherin
Aus Sternstunde Philosophie vom 06.02.2022.
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Soziologin Shalini Randeria «Selbst Orbán kann die Globalisierung nicht ausschliessen»

Avocados, Yoga, Sushi und Tango: Die Globalisierung bringt unseren Alltag mit fernsten Produkten und Kulturen in Berührung. Warum es zu offenen Grenzen keine Alternative gibt, wer von der Globalisierung profitiert und wer verliert, weiss die indische Sozialanthropologin Shalini Randeria.

Die Rektorin der Central European University in Wien hat die Folgen von zunehmendem Nationalismus selber erfahren: Auf Druck der Regierung von Viktor Orbán musste das Institut Budapest verlassen.

Shalini Randeria

Shalini Randeria

Sozialanthropologin und Soziologin

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Die indische Sozialanthropologin und Soziologin Shalini Randeria ist so globalisiert wie die Globalisierung selbst, die sie erforscht. Randeria spricht sieben Sprachen fliessend, zahlt in drei Ländern Steuern und lehrte an Universitäten rund um die Welt.

Gegenwärtig ist die polyglotte Wissenschaftlerin die Rektorin der Central European University in Wien, die 2019 auf Druck der ungarischen Regierung Viktor Orbán Budapest verlassen musste.

Sie interessiert sich für die kolonialen Wurzeln der Globalisierung und argumentiert, dass die Welt schon immer über Grenzen hinweg vernetzt gewesen sei.

SRF: Wir leben in einer globalisierten Welt. Dies hat uns einmal mehr die Pandemie gezeigt: Das Virus wurde rasend schnell global. Doch unsere Antworten waren lokale Grenzschliessungen. Für Sie eine absurde Reaktion?

Shalini Randeria: Grenzschliessungen waren absurd, weil das Virus nicht an Grenzen Halt macht. Doch als politische Reaktion war die Losung «Grenzen dicht» verständlich. Staaten wollen und müssen ihre Bürger beschützen.

Die sogenannten Globalisierungsverlierer leiden nicht unter der Globalisierung per se, sondern unter ihrer neoliberalen Form.
Autor:

Kurz darauf wurde aber klar, dass Grenzen nicht dicht gemacht werden können. Jedes Land ist auf internationale Warenströme angewiesen. Medizinisches Material blieb aus. Und es fehlten die Arbeitskräfte, um Spargeln zu ernten und Erdbeeren zu pflücken.

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Beendet das Corona-Virus die Ära der Globalisierung?
aus Trend vom 24.04.2020. Bild: Keystone
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Oft ist die Rede von sogenannten Globalisierungsverlierern. Haben Sie Verständnis für globalisierungskritische Anliegen?

Ja, ich kann das gut nachvollziehen. Überall auf der Welt gibt es Menschen, die ihre Arbeit verloren haben oder nun weniger verdienen, weil beispielsweise die Wirtschaft deindustrialisiert wurde.

Aber hat das wirklich allgemein mit der Globalisierung zu tun? Ich denke, es ist vielmehr eine spezifische Form der Globalisierung, die wir heute sehen. Diese reicht zu den Ursprüngen des Neoliberalismus zurück, also in die 1980er-Jahre mit der britischen Premierministerin Margaret Thatcher und dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan.

Selbst Orbán kann die Globalisierung nicht ausschliessen. Er öffnet sein Land für andere illiberale Kräfte.
Autor:

Die sogenannten Globalisierungsverlierer leiden nicht unter der Globalisierung per se, sondern unter ihrer neoliberalen Form. Und diese neoliberale Globalisierung ist kein Naturereignis, mit dem wir uns abfinden müssen. Sie ist politisch gewollt.

Der Widerstand gegen die Globalisierung nimmt oft die Form von Nationalismus an. Sie kennen das als Rektorin der Central European University, die Budapest auf Druck der nationalistischen Regierung von Viktor Orbán verlassen musste.

Das war für die Uni wie für die Studierenden ein unglaublicher Schock. Niemand hat geglaubt, dass es so weit kommen könnte. Man hat darauf gehofft, dass die EU und die USA genügend Druck auf die ungarische Regierung ausüben werden.

Der «sanfte Autoritarismus» verfolgt die ursprüngliche Idee des Nationalstaats aus dem 19. Jahrhundert.

Doch selbst Orbán kann die Globalisierung nicht ausschliessen. Er öffnet sein Land schon, aber nur für andere illiberale Kräfte. So soll in Budapest anstelle der Central European University nun die chinesische Fudan-Universität hinkommen.

Protestierende mit einem Schild für akademische Freiheit in Ungarn.
Legende: Protest in Budapest gegen die Schliessung der Central European University, die auf Druck der Regierung Orbán das Land verlassen musste. REUTERS/Bernadett Szabo

Sie haben in diesem Zusammenhang den Begriff des «sanften Autoritarismus» geprägt. Was besagt dieser genau?

Der «sanfte Autoritarismus» will einen Staat, der nur der ethnischen Mehrheit im Land gehört. Der Staat soll also genau aus einer Sprache, einer Religion und einem Volk bestehen. Damit verfolgt der «sanfte Autoritarismus» die ursprüngliche Idee des Nationalstaats aus dem 19. Jahrhundert.

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Die Lust am Autoritarismus
aus Rendez-vous vom 11.03.2021. Bild: Symbolbild / Keystone
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Dabei geht es auch um pronatalistische Politik, also um Massnahmen zum Bevölkerungswachstum. Von Frauen wird erwartet, zu Hause zu bleiben und so viele Kinder zu bekommen wie möglich. Das ist ein grosser Rückschritt für Frauen- und Reproduktionsrechte.

Wo beobachten Sie diesen «sanften Autoritarismus»?

«Sanften Autoritarismus» gibt es in Ungarn und der Türkei, aber auch in Indien. Beispielsweise propagiert der indische Premierminister Narendra Modi einen Hindunationalismus. Dabei bezieht er sich interessanterweise auf europäische Vorstellungen: ein einheitliches Volk mit einer Leitkultur.

Meine Urgrossmutter stand diesem Hindunationalismus quer entgegen. Sie war die fünfte Frau in ganz Indien, die einen Universitätsabschluss erlangt hat. Das war 1901 – zu einer Zeit, als viele europäische Universitäten noch keine Frauen akzeptierten.

Die Fragen stellte Barbara Bleisch. Das Interview ist ein Auszug aus einem längeren Gespräch, das im Rahmen der «Sternstunde Philosophie» geführt wurde.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 06.02.2022, 11:00;

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