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Gesellschaft & Religion «Sportler sind moderne Heilige»

An der Leichtathletik-WM kämpfen Athleten nicht nur um Medaillen. Eine weitere Disziplin ist die Selbstdarstellung. Usain Bolt ist darin mit seiner Pose unbestrittener König. Der Körper ist im Sport zum Markenzeichen geworden, sagt Kunstwissenschaftler Jörg Scheller.

Herr Scheller, zählt heute mehr die Show, als die sportliche Leistung?

Jörg Scheller: Sport bedeutete immer schon Inszenierung. Im antiken Griechenland kämpften die Athleten nackt, das war ein grosses Spektakel. Später konnte man sich in Rom als Gladiator einen Namen machen. Dafür bedarf es einer Differenz, man muss sich irgendwie auszeichnen. Heute reichen sportliche Leistungen alleine nicht mehr, um herauszustechen.

Ist das wirklich ein neueres Phänomen?

Zur Person

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Jörg Scheller ist Kunstwissenschaftler und Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste. Das Thema Körperkultur ist seine Leidenschaft. Früher hat er selber Bodybuilding praktiziert und dazu publiziert. Das Kunsthaus Zürich zeigt ab dem 21. November eine von Scheller kuratierte Ausstellung, «Building Modern Bodies – The Art Of Bodybuilding».

Heute ist jeder Leistungssportler auch eine Marke und eine Marke muss sich von anderen auszeichnen. Deshalb haben Sportler sogenannte «Signature Poses» entwickelt, Markenposen, anhand derer man sie von anderen unterscheiden kann. Das fing an mit dem Basketballer Michael Jordan, der die Zunge rausstreckte, wenn er zum Dunking ansetzte. Heute ist es ein Usain Bolt mit seiner Blitzgeste.

Was steckt genau hinter einer solchen Pose?

Es ist ein gesellschaftliches Phänomen: Wir präsentieren uns heute über unsere Körper, wir tragen unsere Körper als Visitenkarte des Selbst. Der Körper ist zu einer Leinwand geworden und auf dieser Leinwand inszenieren wir uns. Bei Bolt könnte man sagen, diese Geste ist so eine Art Totem für ihn, der Blitz als Totem.

Welche Kriterien muss eine Geste erfüllen, damit sie sich einprägt?

Eine gute Geste funktioniert nur dann, wenn sie den Gestenträger charakterisiert und gleichzeitig eine Botschaft an andere übermittelt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Tennisspielerin Andrea Petkovic, die nach einem Sieg öfter mal ein Tänzchen aufführte. Sie ist Musikliebhaberin, das charakterisiert sie, gleichzeitig ist es noch mal eine Deklassierung der Gegnerin – die verliert doppelt, wenn sich Petkovic so inszeniert.

Nun fallen Sportler nicht nur durch Posen auf, auch Tätowierungen zieren immer häufiger ihre Körper.

Sportler sind auch moderne Heilige und was brauchen Heilige – sie brauchen Attribute. Das war im Mittelalter schon so: Damals hatten Herren allesamt Rauschbärte, also gab man den Heiligen Attribute, damit sie besser vermittelbar wurden.

Experiment Sendungstausch

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Die Redaktionen von «sportlounge» und «Kulturplatz» haben ein Experiment gewagt und einander für eine Sendung die redaktionelle Hoheit überlassen. In der «sportlounge» vom 24. August 2015 fragten die Kulturredaktorinnen und -redaktoren: Wo ist Sport kulturell?

Bei den Athleten ist es genauso. Es sind alles durchtrainierte Menschen in enganliegender Kleidung, da unterscheidet man sich nicht signifikant. Dann kommen die Attribute ins Spiel: Frisuren, Tattoos, Gesten, Posing. Als moderne Heilige brauchen Sportler Attribute.

Was unterscheidet letztlich das heutige Körperbild von jenem der olympischen Geburtsstunde?

In der Antike galt der Körper als Ausdruck der Seele, als Gegenpart – ein guter Geist in einem schönen Körper. Heute glauben wir nicht mehr daran. Wir glauben nicht mehr, dass der Körper Ausdruck des Wahren, Schönen und Guten ist. Stattdessen muss der Körper interessant und originell sein. Er charakterisiert uns als originelle, interessante Wesen. Daran lässt sich der Übergang vom Zeitalter des Schönen zum Zeitalter des Originellen und Interessanten ablesen.

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