In ihrem Buch «Du sollst nicht töten – Nachrichten aus dem Todestrakt» versucht Ursula Corbin zu verstehen, warum ein Mensch zum Mörder wird.
Die 70-jährige Schweizerin schreibt seit 35 Jahren Briefe an zum Tode verurteilte Männer in US-amerikanischen Gefängnissen und begleitet sie bis zum letzten Tag – die meisten aus der Ferne, manche aus nächster Nähe.
SRF: In Ihrem Buch erzählen Sie von acht Männern. Einer von ihnen ist Steven. Kurz vor seiner Hinrichtung haben Sie ihn noch besucht. Wie müssen wir uns einen letzten Besuch vorstellen?
Ursula Corbin: Der allerletzte Besuch ist der schwierigste. Man darf acht Stunden miteinander verbringen. In den ersten Stunden versucht man, noch ein bisschen Hoffnung zu verbreiten. Steven und ich kannten uns gut. Wir pflegten 18 Jahre lang eine intensive Brieffreundschaft.
Dann heisst es Abschied nehmen. Wie erleben Sie diesen Moment?
Der Wärter kommt und kündigt die letzten zehn Minuten an. Man weiss in diesem Moment, der Mensch vis-à-vis wird mit 95-prozentiger Sicherheit demnächst hingerichtet. Es fehlen die Worte. Man schaut sich eigentlich nur noch an und presst die Hände gegen die Glasscheibe. Er von innen. Ich von aussen.
Steven verbrachte über 20 Jahre eingeschlossen im Betonsarg.
Viermal habe ich diese Situation bereits erlebt. Es war jedes Mal unheimlich schwer. Wenn der Wärter sagt: «So, jetzt ist die Zeit um», dann stehen beide auf. Ich muss als erste raus. Er bleibt in der Besucherzelle, bis er abgeführt wird. Ich winke beim Herausgehen, weil ich weiss, dass er mich noch sehen kann.
Steven verbrachte 22 Jahre im Todestrakt. Er war schuldig.
Steven behauptete nie, unschuldig zu sein. Er war als Jugendlicher drogenabhängig. Zusammen mit einem Komplizen überfiel er seinen Drogendealer, der in einem Schusswechsel starb.
Für die Tat wurden er und sein Komplize 1988 zum Tod verurteilt. Bis zur Vollstreckung dauerte es über 20 Jahre. Steven verbrachte sie «eingeschlossen im Betonsarg», wie er es nannte.
Hatte Steven vor seiner Hinrichtung durch die Giftspritze am 16. September 2009 noch einen letzten Wunsch?
Er fragte mich, ob ich bei seiner Hinrichtung dabei sein könnte. Das brachte mich in ein Dilemma. Ich wollte ihm seinen letzten Wunsch nicht ausschlagen, aber ich hatte Angst, zusehen zu müssen, wie sie ihn im Hinrichtungsraum auf der Liege anschnallen und ihm die Giftspritze verpassen.
Ich bin sicher, dass Steven meine Wärme und meine Gedanken gefühlt hat.
Doch dann, zwei Wochen vor seiner Hinrichtung, schrieb mir Steven einen Brief. Er habe es sich anders überlegt. Er wolle nicht, dass ich komme und die Bilder seiner Hinrichtung für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen müsse. Ich war sehr erleichtert über diese Nachricht.
Sie kennen den Zeitpunkt der Hinrichtung. Wie verbringen Sie ihn?
Ich zünde meist eine Kerze an und konzentriere mich ganz fest auf den Menschen. Ich bete für ihn und dafür, dass er Frieden und Ruhe findet und ans Licht kommt. Das klingt vielleicht etwas kitschig, aber ich bin sicher, dass Steven meine Wärme und meine Gedanken gefühlt hat.
Ein sehr spezielles Erlebnis widerfuhr mir beim Tod meines ersten Brieffreundes Clifford. Wir hatten die Angewohnheit unsere Briefe mit Glückskäfern zu verzieren, kleinen rot-schwarzen Marienkäfern.
Am 15. Dezember 1993 – zum Zeitpunkt von Cliffords Hinrichtung in Texas – sass ich in meiner Wohnung in der Schweiz und war in Gedanken bei ihm. Da plötzlich kitzelte mich etwas. Ich öffnete die Augen. Ein Marienkäfer krabbelte über meinen Arm. Minuten später klingelte das Telefon und man sagte mir, Clifford sei tot.
Ich nehme das als Zeichen. Der Marienkäfer steht für Glück, also ist Clifford nun glücklich, da wo er ist. Das hat mich getröstet und motiviert, den Männern im Todestrakt weiterhin beizustehen.
Das Gespräch führte Monika Schärer.