Der Übertritt ins Gymnasium sorgt immer wieder für Diskussionen. Aktuell im Kanton Zürich: Dort sind dieses Jahr 8500 Schülerinnen und Schüler zur Gymi-Prüfung angetreten. Die meisten haben dafür teure Vorbereitungskurse besucht. Doch schaffen es auch die «Richtigen»? Regula Leemann, Professorin für Bildungssoziologie, über Chancengleichheit und andere Stolpersteine.
SRF: Wie gerecht ist die Gymi-Prüfung aus dem Blickwinkel der Chancengleichheit?
Regula Leemann: Zuerst sollte man sich fragen, wer sich überhaupt für die Prüfung anmeldet. Nicht nur die Leistung oder Leistungsfähigkeit des Kindes ist hierbei ausschlaggebend, sondern auch die Frage: Welche Bestrebungen haben die Eltern?
Die Selbstverständlichkeit der Familie, diesen Weg zu gehen und die Sicherheit, das Kind bei der Prüfung und danach dann unterstützen zu können – das ist ein wichtiger Aspekt. Weitere Ungleichheitsprozesse, wie Schulnoten oder eine Empfehlung der Lehrperson selektieren die Kandidaten und Kandidatinnen weiter aus.
Bislang gibt es für den Gymnasial-Übertritt keine Evidenz oder belastbaren Ergebnisse, die zeigen würden, welches Verfahren mehr oder weniger Ungerechtigkeiten produziert.
Sie sagen, sowohl eine Übertrittsprüfung und als auch das System, in dem Noten und die Empfehlung der Lehrperson zählen, können Ungleichheiten produzieren. Woran hapert es denn beim prüfungsfreien Übertritt?
Lehrpersonen sind nicht davor gefeit, Ungleichheiten zu produzieren – wenn auch nicht aus bösem Willen. Aber Studien zeigen: In den Fällen, wo Kinder sich im Graubereich bewegen, neigen Lehrpersonen dazu, Kindern aus Akademikerfamilien eher zuzutrauen, den gymnasialen Weg zu meistern. Anders, wenn das Kind aus einer Familie kommt, in der die Eltern diesen Bildungsweg nicht gegangen sind.
Kommt noch hinzu: Eltern haben bei den Empfehlungen der Lehrpersonen mehr Einfluss auf den Entscheid als bei einer Prüfung. Und Akademiker-Eltern nehmen ihre Einflussmöglichkeiten eher wahr. Nicht-Akademiker-Eltern ziehen sich eher zurück und sind glücklich, wenn das Kind eine gute Berufsausbildung ergreifen kann.
Welche Stellschrauben gibt es im Bildungssystem, um den Übertritt ins Gymnasium möglichst chancengerecht bezüglich sozialer Unterschiede zu gestalten?
Man müsste die Prüfungsindustrie, also diese private Vorbereitung für die Aufnahmeprüfung demokratisieren und für alle ermöglichen. So gab es im Kanton Zürich einen Vorstoss, dass die Gemeinden solche Kurse kostenlos anbieten müssten. Dieser Vorstoss ist dann aber gescheitert.
Eine weitere Stellschraube ist, Lehrpersonen besser zu sensibilisieren, damit damit sie schulisch leistungsstarke Kinder aus sozial benachteiligten Familien motivieren, die Prüfung überhaupt zu versuchen.
Und in den Kantonen, in denen es keine Prüfung gibt?
Dort ist die Lehrperson die Schlüsselstelle. Lehrpersonen produzieren selbst und in den Gesprächen mit den Eltern solche sozialen Ungleichheitsprozesse mit.
In der Bildungssoziologie und an den Pädagogischen Hochschulen sind all diese Selektionsmechanismen, die zu Ungleichheit führen, ein zentrales Thema und werden in der Ausbildung berücksichtigt.
Das Gespräch führte Irène Dietschi.