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Tagebuch eines Arztes Vom Tag, als das Virus die Demenzabteilung erreichte

Ein junger Arzt erzählt von seiner Arbeit in einem Alterspflegeheim während der Covid-Pandemie. Überarbeitete Tagebucheinträge von März und April 2021.

Simon John

Simon John

Arzt und Journalist

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Simon John hat in Basel Medizin studiert und arbeitet derzeit in einem Zürcher Alters- und Pflegezentrum als Assistenzarzt. Daneben schreibt er für verschiedene Medien über Gesundheitsthemen.

Herr Zanetti* ist nicht geimpft. Jetzt spuckt er Blut. Drei Tage vorher hat er Fieber, nur einmal kurz am Morgen. Als ich zu ihm gehe, sitzt er auf dem Bettrand, noch etwas Marmelade am Mundwinkel, den leeren Teller vor sich.

Der Schnelltest ist negativ, aber er muss im Zimmer bleiben, bis auch der PCR-Test vorliegt. So sind die Regeln bei uns im Pflegezentrum. Ich erkläre es ihm und auch seinem Zimmernachbarn Herr Bussinger. Ich glaube nicht, dass sie mich verstehen, Herr Zanetti sagt «Jojo» und Herr Bussinger nickt höflich.

Auf und ab, auf und ab

Sie sind beide zuhause in der Demenzabteilung. Herr Bussinger sitzt oft neben Frau Lienhard auf der Couch. Dann streichelt er ihre Hand, manchmal auch ihr Knie. Frau Lienhard spricht nicht mehr. Aber wenn sie nervös ist, geht sie umher und stottert wie ein Mofa.

Eine ältere Frau streichelt die Hand eines älteren Mannes
Legende: Manchmal streichelt Herr Bussinger Frau Lienhards Hand. Getty Images / krisanapong detraphiphat

Wenn Herr Bussinger ihre Hand streichelt, bleibt sie ganz still sitzen. Beide sehen nach vorne, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Aber seine hohle Hand fährt auf der ihren auf und ab, auf und ab. Ich traue mich dann nicht, hinzugehen. Ich will sie nicht unterbrechen.

Sie versucht mich zu beissen. Ich weiche aus, aber die Nadel hat getroffen. Sie ist mir nicht böse. Sie hat es bald vergessen.

Herr Zanettis PCR-Test ist positiv. Mutation S:501Y nachgewiesen, die britische Variante. Damit tritt ein, was wir seit langem befürchten. Die Demenzabteilung ist bisher verschont geblieben. Mit jeder Woche, mit der die Impfung näher kam, bangte ich um die über 20 Menschen, denen man keine Maske anziehen, keine Abstandsregeln vermitteln kann.

Jeden Tag tourt Herr Zanetti im Rollstuhl von Zimmer zu Zimmer. Greift jede Türfalle, wird manchmal fluchend aus Zimmern gejagt. Berührt jeden Zentimeter des Handlaufs.

Aus dem Tagebuch eines Arztes

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Bereits im Januar hat der Arzt und Journalist Simon John Einblicke in seinen aufwühlenden Alltag im Pflegeheim gegeben.

Lesen Sie hier einen Auszug aus seinem Tagebuch.

Löwengebrüll am Impftag

Im Januar impfen wir zum ersten Mal. Die Chefärztin verschickt einen Brief an alle Angehörigen. Sie empfiehlt die Impfung dringend. Acht von zehn Angehörigen setzen ein «Ja» unter die Einverständniserklärung. Am Impftag hat nur Frau Rapold schlechte Laune. Sie verscheucht uns mit Löwengebrüll.

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Alters- und Pflegeheime in Zeiten von Corona
aus Rendez-vous vom 07.04.2021. Bild: Getty
abspielen. Laufzeit 4 Minuten 54 Sekunden.

Am nächsten Tag ist sie besser gelaunt, die Pflegerin kitzelt sie hinter dem Ohr. Frau Rapold kichert, die Impfung sitzt. Im Februar impfen wir ein zweites Mal, auch dieses Mal ist Frau Rapold schlecht drauf. Sie versucht mich zu beissen. Ich weiche aus, aber die Nadel hat getroffen. Sie ist mir nicht böse. Sie hat es bald vergessen.

Alltag in der Covid-Abteilung

Herr Zanetti kommt in die Covid-Abteilung. Er liegt im Bett und schnappt nach Luft. Zu erschöpft zum Sprechen. Die Pflegerinnen berichten, dass er nicht mehr trinkt, dass er Blut hustet. Er hat einen Beistand, den ich nicht erreiche. Herr Zanettis Sauerstoffsättigung sinkt. So früh nach Krankheitsbeginn. Ich verordne Morphin und sonst nichts.

Die Demenzabteilung wird abgeriegelt. Pflegerinnen und Pfleger in gelben und blauen Schürzen schweben über den Flur. Alle Bewohner werden getestet, immer wieder im Abstand von fünf Tagen.

Der Zimmernachbar Herr Bussinger: positiv. Frau Lienhard, die gestreichelte: positiv. Und viele weitere, am Schluss zwei Drittel. Sie werden alle nach und nach in die Covid-Abteilung verlegt, um die nicht Angesteckten zu schützen. «Kohortenisolation» nennen wir das.

Eine Ärztin schiebt einem Senioren ein Teststäbchen in die Nase.
Legende: Im Abstand von fünf Tagen werden die Bewohnerinnen und Bewohner der Demenzabteilung auf Covid-19 getestet. Getty Images / Ergin Yalcin

Herr Zanettis Zustand

Am nächsten Tag trete ich wieder an Herr Zanettis Bett. Jetzt sieht er mich an, er atmet schwer, aber er sieht mich an. Ich erschrecke. Ich hätte ihn schlafend erwartet, mit grauer Haut. Jetzt kann ich mit ihm reden.

Ich sage: «Herr Zanetti, Sie haben eine Lungenentzündung.» «Ah ja», sagt er. «Sollen wir sie ins Spital schicken?» – «Nein.» «Das könnte aber bedeuten, dass Sie daran sterben.» – «...ch» – «Wie bitte?» – «Seich!»

Pflegerin Amanda fragt mich, wieso Herr Zanetti keine Antibiotika bekommt. Es ist keine Kritik. Sie sieht erschrocken aus. Es geht ihr gleich wie mir. Herr Zanetti trinkt, er redet. Es scheint ihm heute besser zu gehen als die letzten drei Tage. Ich sage, dass wir ihm Dexamethason und Antibiotika geben könnten. Dass es aber kaum einen Einfluss haben wird.

Es sei komisch, dass es ihm jetzt so schlecht gehe, ausgerechnet nachdem man ihn so bedrängt habe wegen der Impfung.

Herr Zanettis Beistand

Aber jetzt zweifle ich selbst. Ich wähle die Nummer des Beistands – Combox. Zehn Minuten später ruft er zurück. Ich erzähle, wie es Herrn Zanetti geht, wie er aussieht. Schlechte Blutwerte, tiefer Sauerstoff.

Herr Zanetti, sage ich, hat eine schlechte Prognose. Der Beistand sagt, er fände das komisch. Seine Stimme klingt wütend. Er fände komisch, dass es Herr Zanetti jetzt so schlecht gehe.

Er erzählt, sie seien alte Freunde. Herr Zanetti, früher Frauenheld und Bühnenbildner, habe sich in den letzten Monaten immer gefreut auf die Besuche, er sei so fröhlich gewesen. Es sei komisch, dass es ihm jetzt so schlecht gehe, ausgerechnet nachdem man ihn so bedrängt habe wegen der Impfung. Er sagt, er mache sich seine eigenen Gedanken.

Die graue Haut

Der angedeutete Vorwurf ärgert mich. Ich sage, dass daran nichts komisch sei. Dass wir einen Ausbruch haben im Pflegezentrum, dass wir alles Erdenkliche unternehmen, um ihn aufzuhalten. Dass Herr Zanetti leider auch dieses Virus erwischt habe und darum schwer krank sei.

Der Beistand sagt, dass er nur seine Meinung habe sagen wollen. Ich weiss nicht, was seine Meinung gewesen sein soll. Wir einigen uns darauf, Herrn Zanetti Medikamente zu geben.

Dann passiert es

Am nächsten Tag ist seine Haut grau, die Augen bleiben zu. Die Pfleger und Pflegerinnen spritzen Morphin, damit das Atmen weniger Mühe macht. Dann stirbt er.

Drei weitere Bewohner sind auch nicht geimpft. Auch Frau Lienhard nicht, die Gestreichelte. Sie wird in die Covid-Abteilung eines anderen Pflegezentrums verlegt, weil bei uns das Personal knapp ist. Sie stirbt nach zwölf Tagen. Von vier Ungeimpften überlebt nur einer.

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Corona, die Schweiz und der Tod
aus Kontext vom 10.01.2021. Bild: KEYSTONE / JEAN-CHRISTOPHE BOTT
abspielen. Laufzeit 54 Minuten 51 Sekunden.

Der Zimmernachbar Herr Bussinger sitzt am Tisch in der Stube mit vielen anderen. Seine Hand streichelt das Knie, das ihm manchmal Schmerzen bereitet. Er ist geimpft und nicht krank geworden, so wie ungefähr ein Dutzend andere auch.

Wie im Festzelt

Es ist verrückt, die ganze Welt hält Abstand, aber in der Covid-Abteilung sitzen die Leute zusammen, wie in einem Festzelt. Eine Dame, die sonst immer im Sessel schläft, geniesst den Trubel. Sie sieht um sich, als wäre sie auf Kreuzfahrt. Eine Pflegerin gibt ihr Sirup.

Eine andere Dame vermisst ihren Ehemann, er ist auf der Demenzabteilung geblieben. Beide haben die Impfung bekommen, aber nur sie das Virus. Sie kann nicht sprechen, aber ich erzähle ihr jeden Tag von ihm. Sie antwortet nicht, aber ich sage ihr, dass sie sich bald wiedersehen werden. Ich habe die beiden vorher noch nie ohne einander gesehen.

Jetzt sieht sie sehr konzentriert fern. Es läuft eine Dokumentation über Löwen. Eine Löwin lässt sich im Schatten nieder. Draussen scheint die Sonne. Eine Pflegerin sagt mir, dass die Bewohner heute Nachmittag auf die Terrasse gesetzt werden und Kaffee serviert bekommen. Ich sage ihnen, dass es Frühling wird und dass sie sich keinen Sonnenbrand holen sollen. Einige lachen.

* Die Namen und Beschreibungen der Patientinnen und Patienten wurden stark verändert.

SRF4 News, Rendez-Vous: 07.04.2021, 12:30 Uhr.

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