Reihenweise Influencer und Internetstars hat das soziale Netzwerk TikTok hervorgebracht. Die Video-Plattform zählt rund 500 Millionen aktive Nutzerinnen und Nutzer weltweit.
Das Prinzip: Teenager zwischen 11 und 19 Jahren, alleine oder zu zweit, drehen kurze Videos. Playback-Tanzchoreografien oder Comedyeinlagen, die sie direkt am Handy mit Effekten und Filtern bearbeiten und hochladen. Das Ziel: In all der Kürze originell und charakteristisch rüberkommen – und selbstbewusst.
Typisch sind Lip-Sync-Videos, wie sie die Vorgänger-App musical.ly vor vier Jahren etabliert hat. Die 15-jährige Lucia aus Basel zeigt uns einen solchen Clip: «Mir macht es einfach Spass, mir ein Konzept zu überlegen und Choreografien zu erfinden, die den Songtext interpretieren.»
In eine Rolle schlüpfen
Dem Jugend-Tanzpädagogen Philippe Dick fällt der Ideenreichtum des Videos auf: «Lucia hat eine wirklich coole Attitüde. Sie bewegt sich engagiert zur Musik, setzt Akzente und ist dabei authentisch und lustig.»
Philippe Dick, der die «Lordz Dance Academy» in Wetzikon co-leitet, kennt die App von seinen Tanzschülerinnen und Tanzschülern. Er beobachtet, wie die sogenannte «Muser»-Community ihre eigene Tanzästhetik entwickelt hat und neue Trends hervorbringt: «Mehr als beim Tanz ist der Fokus auf dem Gesicht, das schnell von einem Ausdruck zum anderen wechselt.»
Die Teenager schlüpfen in eine Rolle, fast wie in einem Theaterstück und erzählen in 15 Sekunden eine Geschichte. Aber nicht ihre Geschichte, sondern die des Popsongs.
TikTok hiess früher musical.ly
2017 wurde die Video-App musical.ly von der chinesischen Firma Beijing Bytedance Technology gekauft und ging über in die neue App TikTok. Mit dieser Fusion hat sich der Charakter der Videos verändert: Sie fangen nicht mehr nur den Oberkörper, sondern den ganzen Körper ein. Die ambitionierten Tanzvideos verschwinden mehr und mehr hinter trashigen Comedy- und Quatschvideos, die auf Provokation, Pointen und Insiderwitze setzen.
Auch auf Lucias Handy hiess musical.ly Anfang 2018 plötzlich TikTok. Bei ihr setzte eine Entfremdung ein. Mit dem Narzissmus, den TikTok in seinem öffentlichen Videostream befördert, konnte sich Lucia nicht mehr identifizieren: «Heute ist die App nur noch pure Selbstdarstellung, alles ist sehr gekünstelt und oberflächlich geworden.»
Die Community verändert sich
Mit der Expansion hat sich ein Problem verstärkt, das sich bei musical.ly schon anbahnte: Die Erfolgsstrategie für viele Likes heisst bei Mädchen immer mehr nackte Haut, kurze Hosen und sexy Stylings.
Das geht gegen den Jugendschutz und hat oft Cybergrooming, sexuelle Belästigung durch ältere Männer, zur Folge. Neu gehört es auch zum Spiel, in sogenannten Duetts andere Videos zu karikieren und sich lustig zu machen.
Musical.ly war eine Parallelwelt, in der Teenager weitgehend unter sich blieben und die Online-Community nicht das Aussehen der Performerinnen mit Likes bewertete, sondern die Präzision und Fantasie der Choreografie. Bei TikTok sind die Kommentare oft negativ, beleidigend und in den Kommentarspalten mischen auch Erwachsene mit.
Aus Selbstschutz hat Lucia ihre Videos nur privat hochgeladen, nie öffentlich. Das heisst: Nur Personen, denen sie ihre Erlaubnis gab – etwa ihre Freundinnen – können ihre Videos schauen und selbst wieder darauf reagieren. In 15 Sekunden, versteht sich.