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Gesellschaft & Religion «Tausend in einer Nacht»: Die wahre Geschichte einer Täuschung

Ich ist gerne ein anderer – am liebsten im Internet: Die Kunst der Selbstinszenierung beherrschen wenige besser als Amalia Ulman. Die Künstlerin erfindet für Facebook und Instagram ein neues Leben – 75‘000 Follower glauben ihr jedes Wort. Und jedes Bild.

Ein Foto von einem sonnigen Tag am Strand, der gar nicht so heiter ist? Ein Bild mit einer Freundin, die man eigentlich gar nicht so mag? Selten bilden die vielen Fotos, Posts und Bilder, die wir auf Social-Media-Plattformen hochladen, die Realität ab.

Genau damit spielt die US-amerikanische Performance-Künstlerin Amalia Ulman. Sie hat während drei Monaten auf ihrem Instagram- und Facebook-Profil ihr Leben komplett inszeniert und vorgetäuscht. Für sie ist es eine künstlerische Performance. Für die Follower eine wahre Geschichte.

Video
Phantomschmerz: Wie virtuelles Leben reale Anteilnahme weckt
Aus Kulturplatz vom 11.11.2015.
abspielen. Laufzeit 4 Minuten 21 Sekunden.

Ein Leben nach Skript

Die Performance war bis ins Detail geplant: Für jeden Monat schrieb sie ein Skript. Ulman hatte monatelang Profile von anderen Bloggerinnen beobachtet: «Ich musste wissen, wie sie sich ausdrücken. In welcher Sub-Kultur sie sich befinden. Wie sie sich auf den Bildern darstellen.» Dann begann die Performerin, ihr Online-Leben immer mehr zu inszenieren.

In einer ersten Phase stellte sie das brave, blonde, hübsche, glücklich verliebte und sorgenlose Mädchen dar. Süss lächelt sie in die Kamera. Alles ist rosa, hell, pastellfarbig. Weg von der Provinz, sagen die Fotos, ab nach Los Angeles, in die Stadt ohne Grenzen. Aber das Mädchen will mehr. Sie trennt sich von ihrem Freund, sehnt sich nach dem Abenteuer. Sie lässt das Korsett des perfekten Lebens fallen. Posiert plötzlich freizügig und aufreizend.

Vom Landei zum Luder

Sie versucht sich in der Prostitution. Kleinigkeiten, die man als Follower nur durch Hinweise in der Bildunterschrift erfährt: «1k-1nuit» – «Tausend in einer Nacht». Das Foto zeigt einen Fächer von Geldscheinen. «Less nervous today» – «Heute weniger aufgeregt» steht unter dem Bild, auf dem sie sich mit einem Dessous präsentiert.

Brüste von der Seite, verdeckt von weissem Verbandstoff und Klebestreifen
Legende: «Das machst du jetzt nicht wirklich?!» Die Künstlerin nach ihrer angeblichen Brust-OP. Instagram

Ohne Drogen keine Party: Sie beginnt zu koksen, treibt das Leben eines «Bad-Girls» ans Limit. «Warte mal, wirst du deine Brüste operieren???!!!», fragt ein Follower. Ja, sie wird. Ein Spiegel-Selfie im grünen Gewand verkündet die Brust-OP. Die Regeneration dokumentiert sie auf Facebook im Tagebuch-Stil.

Am Tiefpunkt

Vier Wochen später bricht sie vor der Kamera zusammen. Sie weint, schluchzt und verschwindet für zwei Wochen von der Bildfläche. Ihre Figur ist am Tiefpunkt angelangt. «Die Leute lieben es, andere Menschen durch schlechte Zeiten gehen sehen», sagt die 26-jährige Künstlerin.Sie wolle mit ihrer Performance nicht kritisieren. Sie faszinieren vielmehr die Rollen, die wir wählen um uns darzustellen, die Mittel, die wir dafür einsetzen. Und die Stereotypen der Selbstdarstellung.

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Auch Essena O'Neill beendete ihr Leben auf Social Media. Bei ihr handelt es sich jedoch nicht um ein Kunstprojekt. Die 19-jährige Bloggerin verdiente mit Productplacement auf ihren Bildern und Videos Geld. Diesen Monat beendete sie ihre Existenz auf Social Media und ruft in ihrem letzten Video auf, sich vom «falschen» Leben zu trennen.

Sie arbeitet mit Wiederholungen, damit sich die Follower mit der Figur und der Geschichte immer mehr verbunden fühlen. Tatsächlich haben es ausser ihren engen Freunden alle geglaubt. Während der dreimonatigen Performance folgten ihr 75'000 Leute. Fragt man sie, ob sie sich dabei fühlte, als würde sie jemanden veräppeln, lehnt sie ab: «Nein, alles war eine Performance. Es ist klar, dass das Internet nicht echt ist.»

Zwei Teile, ein Ich

Rund 300 Millionen Nutzer zählte Instagram im vergangen Jahr. Für viele ein Vehikel der Selbstdarstellung. Doch woher kommt dieses Bedürfnis, sich dauernd präsentieren zu wollen? «In Zeiten, in denen die Gesellschaft immer komplexer wird, bieten solche Plattformen die Möglichkeit der Kontrolle über das eigene Ich», sagt Sabina Misoch, Jugend- und Alterssoziologin.

Man habe alles selbst im Griff und könne die Selbstdarstellung steuern. «Es kann auch einen therapeutischer Effekt haben, wenn ein User mit einem Video sein Trauma verarbeitet.» Eine Studie habe gezeigt, dass Jugendliche keinen Unterschied zwischen On- und Offline-Leben machen. «Es sind zwei Puzzleteile, die dann zusammen das Leben bilden.»

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