Zeit ist Geld – in keiner andern Stadt gilt das mehr als in Genf. Die unglaubliche Dichte an teuren Uhrenmarken lockt jährlich rund 90'000 chinesische Touristen an.
Viele von ihnen kommen, um sich eine Schweizer Uhr zu kaufen oder um mehr über das Schweizer Uhrenhandwerk zu erfahren. Für sie bietet Geneva Tourism mit der «Geneva Watch Tour» einen eigenen Stadtspaziergang an.
500 neue Millionäre pro Tag
«In den letzten zehn Jahren sind in China 1,8 Millionen neue Millionäre und 120 neue Milliardäre entstanden. Das sind 500 neue Millionäre pro Tag», erklärt Zhao Lei von Geneva Tourism, die den Spaziergang leitet. «Diese vielen Neureichen möchten Luxus-Güter kaufen, und die Schweizer Uhr steht dabei ganz oben auf ihrer Liste.»
Wer sich alles leisten kann, möchte das besitzen, was nur wenige haben können. Das gehört zum Selbstverständnis der neuen Oberschicht in China.
In einem Land mit rund 1,4 Milliarden Menschen hat Einzigartigkeit eine ganz besondere Bedeutung – und einen besonderen Preis.
Das weiss auch der Videoproduzent und Uhrenexperte Marc André Deschoux. In seinem Büro in der Genfer Altstadt produziert er den Youtube-Kanal «The Watches TV».
Deschoux sagt, die Schweizer Uhr sei für Chinesen nicht mehr nur Statussymbol: «In China reicht es nicht mehr aus, mit einer teuren Schweizer Uhr am Handgelenk zu prahlen. Die chinesischen Kunden wollen heute mehr wissen. Sie möchten verstehen, was die Schweizer Uhrmacherei so besonders macht.»
Für seinen Youtube-Kanal organisiert Marc André Deschoux Ausflüge zu traditionellen Uhrenmanufakturen in der Westschweiz.
Einmal miterleben, wie eine Uhr entsteht
Einmal dabei sein, wenn das kleine feinmechanische Wunder entsteht. Einmal den Künstler anfassen können. Dieses Bedürfnis wird bei den Chinesen bereits in der Heimat kultiviert.
So veranstalten die Schweizer Uhrenmarken in Hong Kong, China oder Singapur regelmässig schillernde Promo-Partys. Die Schweizer Uhr soll mit einem vitalen Lebensgefühl verbunden sein.
Bestechung mit Schweizer Uhr ist passé
Wichtig sind natürlich auch die Markenbotschafter. Die lokalen Idole aus Film, Sport und Popmusik machen den Mythos um die kleinen helvetischen Zeitmesser perfekt.
Auch deshalb war die Schweizer Uhr in China lange Zeit ein beliebtes Schmiermittel. Seit dem neuen Antikorruptionsgesetz unter Xi Jinping geht das aber nicht mehr so einfach.
«Früher kam es nicht selten vor, dass Chinesen nach Genf kamen und 20 Patek-Phillipe-Uhren kauften, auf einen Schlag. Oder 20 Rolex-Uhren», erzählt Marc André Deschoux. «Mit einer Schweizer Uhr konnte man sich in China sehr gut jemandes Gunst erlangen. Da die Politik seit einigen Jahren aber härter durchgreift, müssen die Chinesen viel mehr aufpassen.»
Chinas Kaiser liebten Schweizer Uhren
Bereits die chinesischen Herrscherfamilien liebten Schweizer Uhren. Einige dieser Stücke sind wieder in die Schweiz zurückgekehrt und heute im Patek-Phillipe-Museum in Genf ausgestellt. Die chinesischen Touristen möchten hier also sehen, welche Uhren ihre Kaiserinnen und Kaiser damals getragen haben.
Interessant ist auch, dass es in den 70er-Jahren eine gute Geste war, wenn der Bräutigam der Braut eine Schweizer Uhr schenkte.
Und was sagen die chinesischen Touristinnen und Touristen heute? Luo Jie aus der Millionenmetropole Guang Zhou ist begeistert von der «Geneva Watch Tour»: «Ich habe wieder mehr gelernt über das Uhrhandwerk», sagt der chinesische Geschäftsmann. «Ich bewundere die Meisterleistung und die hohe Expertise, die in so einer handgemachten Schweizer Uhr steckt. Von dieser Präzision kann man auch für sein eigenes Leben lernen.»
Wir haben die Zeit, die Chinesen das Geld
Eine grosse Frage aber bleibt: Warum überlassen die Chinesen die hohe Kunst der Uhrmacherei den Schweizern und kultivieren sie nicht selber? «Die Chinesen müssen keine Meister der Uhrmacherei werden. Denn sie sind Meister im Business. So einfach ist das», erklärt Zhao Lei.
Mit anderen Worten: Die Schweizer haben die Zeit, die Chinesen das Geld. Am Ende ist halt alles käuflich, auch eine Jahrhunderte alte Uhrentradition.