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Timothy Garton Ash Warum Osteuropa nach rechts rutscht

30 Jahre nach dem Mauerfall sucht der britische Historiker Timothy Garton Ash nach Erklärungen für den Rechtspopulismus.

Jaroslaw Kaczynski in Polen, Viktor Orban in Ungarn, Andrej Babis in Tschechien: In vielen osteuropäischen Ländern sind rechtspopulistische Politiker tonangebend.

Ihnen gelten die demokratischen und liberalen Freiheitsrechte wenig. Zuwanderer bringt man auch mal mit «Parasiten» und «Bakterien» in Verbindung.

30 Jahre nach der Wende, als die ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten in Osteuropa die Freiheit erlangten, ist die Bilanz ernüchternd. Und manch westlicher Beobachter reibt sich die Augen.

Unter ihnen ist auch der britische Historiker Timothy Garton Ash, ein Kenner der Transformation in Osteuropa. Bereits vor dem Mauerfall 1989 bereiste er zu Studienzwecken Metropolen des damals noch kommunistischen Osteuropas.

Ein Klassiker der Geschichtsschreibung

Ash beschrieb in seinem 1990 veröffentlichten Essayband «Ein Jahrhundert wird abgewählt» die bleierne Schwere des Lebens in der Diktatur.

Auch erzählte er von den Hoffnungen und Ängsten des westlichen Beobachters während des Umsturzes: Kann sich das Volk gegen die Nomenklatura durchsetzen? Oder wird Gorbatschow Panzer schicken?

Das Geschichtswerk ist seinerseits zum historischen Dokument geworden: Es gewährt detaillierte Einblicke in das Denken vor 30 Jahren, als man die Resultate des welthistorischen Prozesses noch nicht kannte.

Jetzt, da wir sie kennen, herrscht Ernüchterung. Um sie geht es im 30 Seiten umfassenden Schlusskapitel, das Ash seinem Buch in der Neuauflage hinzugefügt hat.

Gleich zu Beginn heisst es: «Jetzt, zum 30. Jahrestag, drängte sich vor allem eine beklemmende Frage auf: ‹Was ist schiefgelaufen?›»

Viel Frust

Auf der Suche nach Antworten hat Ash Osteuropa erneut bereist. Bei der Lektüre dieses Schlusskapitels wird der Frust fassbar, den viele Menschen in Osteuropa in sich tragen.

Etwa, dass ausgerechnet ehemaligen Umstürzler zu den Verlierern des wirtschaftlichen und sozialen Wandels wurden. Oder dass heimische Industriebetriebe geschlossen wurden und zu wenig neue entstanden. Oder dass sich die Menschen im Osten oft generell als Menschen zweiter Klasse fühlten.

Buchhinweis

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Timothy Garton Ash: Ein Jahrhundert wird abgewählt. Europa im Umbruch 1980-1990. Erweiterte Neuausgabe. Aus dem Englischen von Yvonne Badal und Andreas Wirthensohn. Hanser 2019.

Nährboden für den Populismus

Ein weiteres Problem für die jungen Demokratien bildet die massive Abwanderung gebildeter Schichten. Zwar würden heute viele Osteuropäer beeindruckende berufliche Karriere hinlegen, schreibt Ash, «aber sie machen das nur selten daheim». Wer kann, geht – und fehlt zu Hause beim Ausbau der demokratischen Zivilgesellschaft.

Auf diesem Nährboden, analysiert Ash, gedeihe der Populismus. Zwar grassiere dieser in den meisten Demokratien der Welt. In Osteuropa akzentuiere er sich jedoch aufgrund der kommunistischen Vergangenheit mit besonderer Schärfe.

Parolen von Populisten kämen hier besonders gut an, weil sie eine linke Wirtschafts- und Sozialpolitik mit autoritären, reaktionären, nationalistischen und auch fremdenfeindlichen Zielen verbinden. Im Resultat demontiert eine so geartete Politik die Demokratie.

Demonstranten mit einer Ungarn-Flagge spiegeln sich in einer regennassen Strasse.
Legende: Keystone

Der Kampf für die Freiheit

Wie weiter? So genau weiss das offenbar auch Timothy Garton Ash nicht. Es brauche «eine grossangelegte Reform» – in ganz Europa und im Westen insgesamt, schreibt der Autor. Die «liberalen und Institutionen und Praktiken» bedürften einer «grundlegenden Erneuerung». Konkreter wird Ash nicht.

Aber: Noch sei der Kampf für die Freiheit nicht verloren. Dies habe die Slowakei bewiesen, die mit Zuzana Caputova kürzlich eine liberale, proeuropäische Frau zur Präsidentin gewählt hat. Der Sieg der Freiheit, folgert Ash, «ist möglich».

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