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Porträt Steffen Mau
Legende: «Daten machen Leute», sagt Steffen Mau. Jürgen Bauer

Top oder Flop? «Heute grassiert ein wahrer Kult um Bewertungen»

Das Restaurant, das Hotel, das neuste Elektronikprodukt, die Universität, ja sogar der potenzielle Partner – wir bewerten heutzutage alles mit Punkten und Sternchen. Gibt das dem Kunden Macht oder nimmt es ihm seine Freiheit? Ein Gespräch mit dem Soziologen Steffen Mau.

Wir werden heute überall und immer bewertet. Top oder Flop?

Bewertungen sind an sich nichts Schlechtes. Sie helfen uns in einer komplexen Welt, Ordnung und Überblick zu schaffen, weil sie Besser-Schlechter- und Mehr-oder-Weniger-Vergleiche erlauben.

Heute grassiert aber ein wahrer Kult um solche Bewertungen. Wir wägen Argumente nicht mehr ab, wir tauschen sie nicht mehr aus untereinander. Wir orientieren uns nur noch an den Vorgaben der Bewertungssysteme, nicht mehr daran, was wir selbst für relevant halten.

Die Idee der Bewertungen war ursprünglich ein aufklärerischer Gedanke. Sie sollten Konsumentinnen und Konsumenten helfen, sich unabhängige Informationen zu beschaffen.

Die Massenbewertungen im Internet haben tatsächlich zur Folge, dass sich die Macht verschiebt. Der Kunde gewinnt an Einfluss. Unternehmen, Ärzte oder Lehrer müssen sich nun um gute Bewertungen bemühen.

Die Anzahl manipulierter Bewertungen ist schwer abzuschätzen.

Man sollte aber auch nicht vergessen, dass die Daten nicht die Realität darstellen, sondern oft neue Illusionen schaffen: Ärztebewertungen bilden nicht das ärztliche Können ab, sondern allzu oft nur, wie freundlich oder sympathisch sie erscheinen.

Man liest von gekauften Bewertungen z.B. auf der Reiseplattform Tripadvisor oder gekauften Likes auf Facebook. Muss man heute allem misstrauen?

Bewertungen sind häufig sinnvoll. Sie sollten uns aber nicht davon abhalten, selber zu urteilen. Die Anzahl manipulierter Bewertungen ist schwer abzuschätzen. Klar ist aber, dass Unternehmen vieles dafür tun, um in den Ranglisten gut platziert zu sein. Ein gesundes Misstrauen kann daher nicht schaden.

Zwei Menschen tragen  jeweils einen Pfeil. Einer schaut nach oben, der andere nach unten.
Legende: Top oder Flop? «Heute grassiert ein wahrer Kult um Bewertungen», so Steffen Mau. Getty Images

In ihrem aktuellen Buch beschäftigen Sie sich mit den Folgen des Bewertungskults. Da verwenden sie den Begriff des «metrischen Wir».

Das «metrische Wir» meint die Gesellschaft der Ratings, Rankings, Scores, Likes und Sternchen. Es ist eine Gesellschaft, in der alles quantifiziert wird.

Man verlässt sich nur noch auf Zahlen, um sich zu orientieren, zu klassifizieren und zu bewerten. Während es früher hiess, «Kleider machen Leute», kann man heute sagen: «Daten machen Leute».

Buchhinweis

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Im Juni 2017 erschien «Das metrische Wir: Über die Quantifizierung des Sozialen» von Steffen Mau im Suhrkamp Verlag.

In China geht dieser Bewertungskult noch viel weiter: Die Regierung will bis 2020 ein «Social Credit System» einführen.

Dieses «Social Credit System» führt alle Daten, die es über die Bürger gibt, zu einem Index zusammen. Dieser Index soll das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger aufzeigen. Ein hoher Punktestand wird belohnt, ein tiefer führt zu Nachteilen – etwa auf dem Wohnungsmarkt oder bei der Arbeitsplatzsuche.

Auch offline werden Daten zusammengetragen: Es wird registriert, was man kauft, wie man sich benimmt oder ob man sich an Gesetze und Regeln hält. Dadurch, dass die Bürgerinnen und Bürger ihre Punktestände ständig miteinander vergleichen, kommt es zu einer neuen Form der sozialen Kontrolle.

Kommt es bei uns auch soweit?

In China hat man weniger Vorbehalte darüber, dass in grossem Stil Daten für politische Zwecke genutzt werden. Die Regierung fördert diesen Prozess aktiv und macht sich die Daten zu Nutze.

Bewertungen bestimmen den eigenen Status wesentlich mit.

In Europa und anderen westlichen Gesellschaften spielen sich die Bewertungen auf dem freien Markt ab. Auch hier werden beinahe alle Aspekte des Lebens «verdatet». Es geht dabei aber um Gewinn und Wettbewerb – nicht um soziale Kontrolle wie in China.

Sie schreiben, dass die Bewertungen Chancengleichheit herstellen können. Warum?

Die Digitalisierung und das Internet erlauben vielen Menschen den Zugang zu Information und ermöglichen ihnen, sich politisch in der Gesellschaft zu beteiligen. Gleichzeitig kann die Digitalisierung auch Ungleichheit zementieren. Bewertungen zum Beispiel bestimmen den eigenen Status wesentlich mit. Die Vorteile kumulieren sich und werden auf die Mitstreitenden ungleich verteilt.

Wenn Sie Bewertungsplattformen nehmen: Die Unterschiede in der Bewertung einzelner Restaurants mögen marginal sein, aber die ersten fünf im Rating ziehen 90 Prozent der Aufmerksamkeit auf sich.

Leistungen, die einstmals unsichtbar waren, können nun sichtbar werden.

Ermöglichen die Bewertungen nicht auch, dass einem kleinen Anbieter durch gute Leistungen und guten Service die Chance gegeben wird, sich mit den Grossen zu messen?

Ja, es gibt immer emanzipatorische Elemente. Leistungen, die einstmals unsichtbar waren, können nun sichtbar werden. Der Markt verändert sich schnell. Aber das System ist auch leicht manipulierbar.

Besonders problematisch ist, dass wir eine ungeheure Marktmacht einiger weniger Unternehmen haben. Diese Unternehmen definieren die Algorithmen. Sie kontrollieren also, was wichtig wird. Hinzu kommt, dass diese Algorithmen oft geheim sind. Dadurch werden die, die uns klassifizieren, immer intransparenter, während wir immer gläserner werden.

Das Interview wurde von Mirella Candreia schriftlich geführt.

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