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Namen statt Nummern für die Opfer des Mittelmeers
Aus Kontext vom 23.03.2020. Bild: Keystone / AP / DANIELE LA MONACA
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Tote Flüchtlinge im Mittelmeer «Die Identifizierung der Opfer ist eine ethische Pflicht»

Übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen, ist für viele Flüchtlinge die grosse Hoffnung. Doch Tausende von ihnen kamen in den letzten Jahren bei Bootsunglücken ums Leben. Die Mailänder Rechtsmedizinerin Cristina Cattaneo befasst sich seit Langem mit den Opfern und versucht den Toten einen Namen zu geben.

Cristina Cattaneo

Cristina Cattaneo

Rechtsmedizinerin

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Die Rechtsmedizinerin Cristina Cattaneo leitet das Laboratorio di Antropologia e Odontologia Forense (LABANOF), das Labor für forensische Anthropologie und Zahnmedizin an der Universität Mailand. Seit 2013 arbeitet sie mit ihrem Team an der Identifizierung von toten Bootsflüchtlingen.

SRF: Seit der Bootskatastrophe vor der italienischen Insel Lampedusa von 2013 identifizieren Sie mit ihrem Team ertrunkene Flüchtlinge. Am Anfang standen sie mit dieser Aufgabe allein da. Warum?

Cristina Cattaneo: Dass tote Migranten identifiziert werden, war nicht selbstverständlich. Es deprimierte mich, dass die Forensiker bei jeder anderen Tragödie sofort bereit waren zu helfen und Identifizierungsteams von Polizei und humanitären Organisationen auf den Plan traten.

Die Opfer des Flugunfalls in Linate bei Mailand zum Beispiel wurden sofort identifiziert. Das ist richtig. Doch das Gleiche muss auch für jene Menschen gelten, die aus Afrika oder dem Nahen Osten kommen und auf europäischem Boden sterben. Doch nach der Bootskatastrophe bei Lampedusa regte sich niemand.

Haben Sie dafür eine Erklärung?

In der Wissenschaftsgemeinde hiess es damals, dass die Identifizierung dieser Leichen zu schwierig sei. Die Ablehnung war vielleicht nicht absichtlich, aber trotzdem diskriminierend. Wir wollten zeigen, dass es machbar ist und dass man es auch machen muss – trotz der wissenschaftlichen Probleme, die es zu überwinden gilt.

Warum ist die Identifizierung der toten Bootsflüchtlinge, die gesetzlich nicht vorgeschrieben ist, wichtig?

Als ich damit begann, war es für mich eine Frage des Respekts gegenüber einem Leben, das zu Ende ist. Zudem habe ich viele Angehörige von Opfern kennengelernt und gemerkt, wie belastend das ungeklärte Verschwinden von Familienmitgliedern ist.

Wenn Kinder zu Waisen werden, muss der Tod ihrer Eltern bestätigt sein.

Es gibt eine ethische Pflicht: Es ist ein Menschenrecht, dass der Fall für die Hinterbliebenen aufgeklärt wird. Und es gibt noch einen Grund: Wenn Kinder zu Waisen werden, muss der Tod ihrer Eltern bestätigt sein, damit sie eine Rente bekommen.

Sie sagen, dass sich nicht nur Italien, sondern auch andere europäische Staaten mit der Aufarbeitung dieser Todesfälle befassen müssten. Gibt es eine europäische Zusammenarbeit?

Nach dem Bootsunglück vor Lampedusa haben wir viele Angehörige befragt, Migranten, die sich in verschiedenen Ländern Europas aufhalten. Wir haben auch mit Menschen gesprochen, die in der Schweiz leben und ihre vermissten Familienmitglieder suchen. Das Schweizerische Rote Kreuz hilft ihnen dabei. Doch eine Zusammenarbeit unter den europäischen Staaten gibt es bisher nicht. Hilfreich wären eine gemeinsame Datenbank und eine Finanzierung.

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Gesucht: Töchter, Söhne, Eltern
aus Kontext vom 23.03.2020. Bild: SRK
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Ihr Team hat in den letzten Jahren Hunderte von Leichen untersucht und Dutzende identifizieren können. Wie gehen Sie dabei vor?

Wir müssen Obduktionen durchführen. Die Informationen, die wir dabei gewinnen, sind vielfältig: von sichtbaren Narben über erlittene Krankheiten bis hin zu speziellen Zahnstellungen. Diese Daten gleichen wir ab mit Informationen, die wir von Angehörigen erhalten, etwa welche Haarfarbe die Person hatte oder ob es noch Gegenstände gibt, an denen sich allenfalls DNA-Spuren finden lassen.

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Cristina Cattaneo: «Namen statt Nummern. Auf der Suche nach den Opfern des Mittelmeers», Rotpunktverlag, März 2020.

Diese Arbeit dürfte sehr belastend sein. Wie halten Sie das aus?

Ja, es ist eine sehr anstrengende Arbeit. Ich untersuche, was Menschen angetan wurde, ich entziffere die Zeichen der Gewalt, die an den Körpern zurückbleiben. Wenn ich abends nach Hause komme, gehe ich nicht mehr hinaus.

Das Schlimmste ist der Kontakt mit den Angehörigen. Sie zeigen dir Fotos aus der Zeit, als die Person noch am Leben war, Fotos von Abschlussfeiern, Geburtstagen und Hochzeiten.

Es sind niederschmetternde Momente, aber diese Arbeit hat für mich eine sinnvolle Perspektive: Ich kann als Wissenschaftlerin nicht nur ein Verbrechen aufklären, sondern einer Person zu ihrem Recht auf Identifizierung verhelfen. Doch diese Arbeit prägt dein Leben. Sie wird ein Teil von dir und verändert deine Sicht auf die Welt. Sie verändert dich.

Das Gespräch führte Sabine Bitter.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 24.03.2020, 9:03 Uhr;

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