Das Wichtigste in Kürze
- In Venedig leben immer weniger Einwohner. Sie werden vom Massentourismus verdrängt. Sie fürchten, dass Venedig zu einem Museum wird – ohne «echte» Bewohner.
- Die Bewohner kritisieren das Verhalten der Touristen: Sie würden sich nicht für die Einheimischen interessieren und keine Rücksicht auf sie nehmen.
- Viele Einheimische setzen sich gegen den Massentoursimus zur Wehr. Sie wollen einen nachhaltigen Tourismus, ohne grosse Kreuzfahrtschiffe.
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Die schwimmende Bushaltestelle knirscht und quietscht, Möwen kreischen. Es ist 9 Uhr morgens am Vaporetto-Anleger Fondamente Nove an Venedigs Nordkante. In der Ferne sieht man die schwarzen schlanken Silhouetten der Zypressen, die die Friedhofsinsel San Michele schmücken.
Zwei junge Mütter hieven ihre Kinderwagen die Treppen der Steinbrücken hoch und runter und ein paar wenige Frühaufsteher unter den Touristen trinken Cappuccino in der Kaffeebar an der Mole.
Die letzten Venezianer
Venedig präsentiert sich idyllisch und ruhig – noch. «Richtig voll wird es erst, wenn sich die Tagestouristen aus den Bussen und Kreuzfahrtschiffen in die Stadt ergiessen» sagt Luana Castelli, mit der ich zu einer Stadttour verabredet bin.
Sie ist Stadt- und Naturführerin und hat zusammen mit dem deutschen Fotografen Karl Johaentges einen Bildband veröffentlicht: «Die letzten Venezianer».
Luana ist selbst eine dieser letzten Venezianerinnen. Sie will mir zeigen, wie sie lebt in einer Stadt, die für viele Touristen ein Museum ist, ein «Must See», das man einmal im Leben «gemacht» haben muss.
Wie lebt es sich, wenn man immer in der Minderzahl ist? Schätzungen gehen davon aus, dass Venedig im Schnitt täglich von 100'000 Menschen besucht wird, Tendenz steigend. Dagegen stehen aktuell 55'000 Einwohner, Tendenz dramatisch sinkend.
Schwindende Seele der Stadt
Venedig braucht seine Bewohner, seine Bürger, seine residenti , die sich organisieren in unzähligen Bürgerinitiativen, die dafür kämpfen, dass die Stadt ihre Seele nicht verliert. Dass sie lebendig bleibt. Dass nicht alle Haushaltswarengeschäfte, Friseursalons und Arztpraxen zu Ledergeschäften, Ferienwohnungen oder Luxushotels werden.
Luana Castelli ist eine von diesen residenti . Eine, die sich nur zu Fuss bewegt oder mit dem vaporetto , dem Wasserbus: Sie liebt dieses langsame Leben. Wer immer zu Fuss geht, sieht vieles, trifft viele Leute – auf unserer Tour bleiben wir oft stehen, man kennt sich. Venedig ist hier noch eine Kleinstadt.
Venezianer seien richtige sestiere -Hocker, sagt Luana Castelli. Sestiere , so nennt man die Sechs Stadtteile Venedigs. Ihre Bewohner blieben unter sich, gehen selten in einen anderen Teil.
Oasen der Bürger
Luana Castelli selber wohnt in Dorsoduro, in der Nähe des Platzes Santa Margherita. Dieser campo unweit der Universität sei das Herz dieses Stadtteils und ein Ort, an dem man noch Stadtleben jenseits von Tourismus finde.
Und tatsächlich: auf kleinem Raum finden sich eine neu eröffnete Buchhandlung, eine Bürgerinitiative zur Seniorenbetreuung und ein Restaurant. Geführt wird es von ehemaligen UMAs, minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen aus Afghanistan und Syrien.
Daneben gibt es einen Solidaritätsladen und einen kleinen, versteckten Garten als betreutes Projekt für Menschen mit Einschränkungen und Behinderungen. Eine kleine Oase für Bürgerinnen und Bürger, die hier noch ein lebendiges Stadtleben finden können.
Es braucht Arbeitsplätze
Das echte Stadtleben, das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner, es findet versteckt statt, kaum wahrnehmbar für Touristen, die nur wenige Stunden oder Tage hier verbringen.
Das dürfe nicht sein, sagt Luana, es müsse ein sichtbares Stadtleben geben – und dafür brauche es auch Arbeitsplätze, die nichts mit Tourismus zu tun haben.
Luana kennt die Lagune, an deren Rand sie aufgewachsen ist, wie ihre Westentasche. Ihre grosse Verbundenheit mit Venedig zeigt sich in ihrer grossen Leidenschaft: dem Rudern. Die teilt sie mit vielen Venezianern und Lagunenbewohnern.
Die Venezianer haben das Rudern im Blut
Luanas zeigt mir die vielen Bootstypen in Venedig. Sie haben klingende Namen wie Mascareta und Sandalo, Puparino und natürlich Gondola.
La voga , das Rudern, liege den Lagunenbewohnern im Blut. Und erfreulicherweise sei das venezianische Rudern wieder im Trend, erzählt sie. Ihr Verein, die Associazione Canottieri Giudecca, hat mehr als 500 Mitglieder.
Nachhaltiger Tourismus
«Die Stadt Venedig ist ohne die Lagune gar nicht denkbar», sagt Luana. Vor 30 Jahren, als die Massentourismuswelle in Venedig erst anzurollen begann, gründete sie eine Agentur für nachhaltigen Tourismus.
Angeboten werden Erkundungen der Lagune per Ruderboot, Naturbeobachtungen, Fahrradtouren, aber auch Stadtführungen in Venedig. Die Agentur trägt den Namen Slow Venice.
Auch Martina Raehr arbeitet für Slow Venice. Die gebürtige Deutsche ist vor 35 Jahren der Liebe wegen hergekommen. Die Stadt brauche dringend einen nachhaltigen Tourismus, sagt sie.
Durch die versteckten Gassen
Heute steht eine Stadtführung durch das sestiere Castello auf dem Plan. Drei Stunden soll sie dauern. Etwa 10 Leute nehmen Teil, alles deutsche Touristen. Es ist heiss. Martina Raehr führt uns am Arsenale vorbei zu den hintersten Ecken der Stadt, weit weg von Rialto und Markusplatz, weit weg von den palazzi am Canal Grande und den Gondeln.
Sie führt in Gassen, wo Wäsche zum Trocknen hängt, zeigt, wie die Venezianer ihre Häuser vor Feuchtigkeit schützen, und sie erklärt, wie die Stadt während mehrerer Jahre das ganze Abwassersystem erneuert hat. Eine funktionierende Kanalisation wurde unter die Gassen und Plätze gelegt, damit kein Schmutzwasser mehr in die Lagune gelangt.
Abfallwesen einer Inselstadt
Auf dem Weg macht sie uns aufmerksam auf das Müllschiff, das gerade anlegt. Der gesamte Müll muss zu Fuss und per Boot entsorgt werden, täglich, sieben Tage die Woche.
In einer Inselstadt wie Venedig sei Müllentsorgung zentral – und die Venezianer wissen das, erklärt Martina. Abfall werde sorgfältig getrennt und recycelt. Aber die Touristen schmeissen alles zusammen weg, auch die Reste ihres mitgebrachten Picknicks.
Wut über Touristen
In den erstaunlich kurzen drei Stunden erfährt man vieles über das Leben in dieser Stadt. Und auch darüber, wie man sich als Besucher verhalten soll: «Traurig, aber wahr, dass man den Touristen erklären muss, dass die Treppe einer Kirche kein Picknickplatz ist», sagt Martina Raehr.
Ihre Wut über den Tagestourismus von den Kreuzfahrtschiffen und Reisebussen ist spürbar. Martina Raehr hat klare Vorstellungen, was zu tun wäre: Keine Kreuzfahrtschiffe mehr in die Lagune fahren lassen und ein streng geregeltes Kontingent für Reisebusse einführen.
Man müsse strenge Regeln für Ferienwohnungen und Bed and Breakfast durchsetzen und günstigeren Wohnraum für Dauermieter schaffen.
Das klingt einfach, ist aber schwierig umsetzbar in einer Stadt, die nicht nur seit Jahren, sondern seit Jahrhunderten von Absprachen, Korruption und undurchschaubarer Politik geprägt ist.
Die Mafia-Expertin
Petra Reski hat viel über diese Strukturen recherchiert und geschrieben. Sie ist Journalistin und Schriftstellerin, schreibt über die Mafia in Italien und kann die Missstände sehr genau benennen.
Auch sie ist Wahl-Venezianerin, seit über 25 Jahren lebt sie mitten in San Marco, in der Nähe des berühmten Opernhauses «La Fenice». Früher sei es da wunderbar ruhig gewesen, sagt sie.
Die Rialtobrücke wird gemieden
Touristen habe es immer gehabt – das sei auch kein Wunder bei der kulturellen Fülle, die Venedig zu bieten habe. Jetzt aber kämen schon morgens die grossen Gruppen der Kreuzfahrtschiffe. Kaum seien sie in der Stadt, liessen sie sich irgendwo, auf einer Brücke, auf einem campo , sogar auf den Stufen des Opernhauses nieder, um das mitgebrachte Picknick zu verzehren.
An einem Kiosk im Quartier kauft die Journalistin ihre täglichen Zeitungen. Hier erzählt sie, dass sie seit etwa einem halben Jahr nicht mehr über die Rialtobrücke gegangen sei. Das halte sie nicht mehr aus, sich durch diese Massen kämpfen zu müssen.
Unbemerkte Skandale
Der Rest von Italien, sagt die Journalistin und zeigt auf eine soeben gekaufte italienische Tageszeitung, interessiere sich nicht für Venedig. Die Stadt werde nicht wirklich als Stadt wahrgenommen, die Probleme interessieren ausserhalb der Provinz Venezien niemanden.
Selbst als 2014 der grösste Korruptionsskandal in Italiens Geschichte aufflog, las man in Italien wenig darüber und im Rest Europas wurde der Skandal praktisch nicht wahrgenommen.
Es ging um das Hochwasserschutzprojekt MOSE. 35 Menschen wurden damals festgenommen, unter ihnen der damalige Bürgermeister Venedigs und der damalige Gouverneur der Provinz Venezien. «Alle sind sie inzwischen wieder auf freiem Fuss!» empört sich Petra Reski.
Eine Handelsstadt ohne Börse
Am Ende des Rundgangs stehen wir vor der ehemaligen Börse der einst reichen Handelsstadt. Jetzt steht sie leer. Die Journalistin erklärt: «Da soll nun auch ein Luxushotel reinkommen, geht das Gerücht. Dabei hätte man ohne Weiteres etwas anderes reinmachen können. Etwas für die Bürger der Stadt.»
Damit überhaupt ein Hotel in so ein öffentliches, der Stadt gehörendes Gebäude kommen kann, müssen die Nutzungsbedingungen geändert werden. «Damit werden Politiker natürlich anfällig für Bestechung».
In der «Heitersten» liegt vieles im Argen
Liegt in der Lagunenstadt also alles im Argen? Einfach ist es zumindest nicht, in dieser Stadt zu leben. Einst nannte man sie la serenissima , die «Heiterste». Heute hat sie mit vielen Problemen zu kämpfen, die alle mit dem Massentourismus zu tun haben.
Selbst die Lungenkrebsrate ist eine der höchsten in Italien – in einer Inselstadt ohne Autos notabene. Die Smogbelastung sei höher als in Rom, sagt Petra Reski, der Kreuzfahrtschiffe wegen.
Schönreden muss man Venedig nicht. Schön ist die Stadt immer noch, atemberaubend schön. Aber schönreden kann man auch die Probleme nicht mehr. Die verbleibenden Venezianer geben sich kämpferisch, manchmal auch stoisch oder zweckoptimistisch.
Aufwachsen in Venedig
Silvia Urbani hat sich arrangiert mit den Eigenheiten dieser Stadt. Sie ist gebürtige Venzianerin, nun sieht sie ihre eigenen Kinder hier aufwachsen.
Kinder in Venedig aufzuziehen, sei schwierig. Halb lachend, halb ernst erzählt sie, das erste Wort ihres Sohnes sei nicht etwa «Mama» oder «Papa» gewesen – sondern «Permesso!». Das ruft man in den engen Gassen, um durchzukommen.
Der Stadt fehlt der Nachwuchs. Im Gymnasium habe es in ihrer Klasse 20 Venezianerinnen und zwei bis drei Auswärtige vom Festland gehabt, erzählt Silvia Urbani. Jetzt geht ihre Tochter ins selbe Gymnasium. Noch fünf Kinder aus der Stadt seien in der Klasse, der Rest komme aus Mestre, Marghera und dem Umland.
Vivald, Vivaldi, Vivaldi
Silvia Urbani hat für unser Gespräch ins Wohnzimmer ihrer Mutter Maria eingeladen – und auch noch ihren Bruder Carlo und den Neffen Giovanni dazugebeten. Das Thema ist ihnen wichtig.
Giovanni ist der jüngste der Runde, er ist knapp 20 Jahre alt. Und er liebt seine Stadt. Wegziehen? «Nie im Leben», sagt er. Aber auch er ist nicht nur glücklich: «In den letzten wenigen Jahren haben viele Theater geschlossen, Konzerte gibt es nur für die Touristen und da wird immer das gleiche gespielt: Vivaldi, Vivaldi und nochmals Vivaldi».
Neben der Kunstbiennale und dem Opernhaus La Fenice, die viele Touristen anziehen, gebe es nichts mehr. Das alltägliche Kulturleben, das für eine lebendige Stadt genauso wichtig sei wie die Grundversorgung, schrumpfe beträchtlich. Theater, Musikbars, Konzerträume und Kinos gibt es kaum mehr.
Venedig braucht die Touristen
Dem Tourismus sind die Einheimischen nicht per se gram: «Unsere Stadt lebt vom Kulturaustausch, seit Jahrhunderten» sagt die Grossmutter Maria De Villa Urbani.
Fragt man die residenti , dann sind sie sich einig: Besucher sind in Venedig immer noch willkommen. Aber nachhaltig sollen die Besuche sein, die Stadt solle profitieren können.
Wer nach Venedig kommt, besucht kein Museum, sondern eine lebendige Stadt. Die Touristen sollen in Verbindung treten mit ihren Bewohnerinnen und Bewohnern. Denn sie sind die Seele, das Gedächtnis der Stadt.
Schluss mit den grossen Kreuzfahrtsschiffen!
Am 18. Juni haben diese Venezianer einmal mehr gezeigt, dass sie residenti resistenti sind – Einwohner, die nicht aufgeben: In einer Abstimmung haben 18'000 Venezianerinnen und Venezianer darüber abgestimmt, ob sie die grossen Kreuzfahrtschiffe aus der Lagune verbannen wollen. Überwältigende 98 Prozent haben dafür gestimmt.
Bei der Abstimmung handelt es sich bloss um eine Umfrage, ohne politische Konsequenzen. Trotzdem war nach diesem 18. Juni die müde und melancholisch gewordene Lagunenstadt für einmal wieder la serenissima , die Heiterste.
Drei Tage nach der Begegnung mit der Natur- und Stadtführerin Luana sehe ich sie wieder. Sie steht mit sieben anderen Frauen in einer dunkelroten Achter-Gondola, und rudert ins Ziel am Ende des Canal Grande: beim fröhlichen Ruderanlass «Voga Longa».
Noch leben sie, die Stadt und ihre Lagune. Noch hat sich Venedig nicht komplett dem Tourismus ergeben.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 10.7.2017, 9 Uhr.