Dmitrij Panov schrieb seinen Sterbe-Blog acht Monate lang. Dann starb er.
Der Psychologiestudent aus Marburg war 25 Jahre jung, als er im Februar 2016 die Diagnose erhalten hatte: «Hirntumor», unheilbar. Im Oktober verfasste er seinen letzten Blogeintrag :
«Lebt wohl, meine Freunde, war schön mit euch.
Leb wohl, Welt, du warst die tollste, in der ich hätte sein können.
Leb wohl, Leben, ich hätte kein besseres haben können.»
Es ist eine positive Botschaft, die Dimitrij Panov seiner Nachwelt hinterlässt. Der junge Mann fordert auf, die Welt und das Leben zu schätzen.
Für seinen Blog hatte Panov einen geradezu poetischen Anspruch : «Wenn du leidest, mach einfach Kunst daraus. Je grösser das Leid, desto eindringlicher die Kunst.»
Nicht alle Sterbeblogs sind so zart – und doch so drastisch – wie der von Dmitrij Panov. Meist nehmen die Krankheitsbeschreibungen und der damit verbundene Verlust von Autonomie viel Raum ein.
Durch das Schreiben, durch Film- oder Tonaufnahmen, gewinnen die Sterbe-Bloggerinnen und -Blogger ein wenig Autonomie über ihr Leben zurück. Sie fassen «es» in Worte.
Trost auch für Leserinnen und Leser
Die grosse Resonanz auf Online-Sterbetagebücher mag erstaunen. Das Leiden der jungen Bochumerin Lisa Wagenführ ging über 22 Folgen. Ihren letzten Videoeintrag sahen fast eine Million Menschen.
Im Begleittext zur 22. Folge schrieb Wagenführ:
«Leider ist es nun so weit, und ich bin nicht mehr erreichbar für euch in diesem Leben. Irgendwie passend, dass es genau das 22. Video geworden ist, denn so alt bin ich geworden. Nun geht es woanders für mich weiter. Ich wünsche euch allen beste Gesundheit und macht einfach weiter, egal was kommt. Schaut immer nach vorne, denn nach jedem Schauer folgt auch wieder Sonnenschein. Danke fürs Unterstützen und fürs Dabeisein.»
Das Unfassbare fassbar machen
Vom eigenen Leben erzählen, «lebensgeschichtliches Erzählen», hilft Menschen dabei, ihren Ängsten zu entkommen. Ganz besonders am Lebensende. Vertreterinnen der Palliativ-Care und Seelsorgende sind überzeugt, dass solches Erzählen darauf vorbereitet, das Leben gut abzuschliessen und damit loslassen zu können.
Die Berner Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Corina Caduff stellt einen regelrechten Boom von «Sterbeliteratur» fest. Dieser bestehe seit gut 10 Jahren, in Buchform wie im Internet. Prominente wie der Regisseur Christoph Schlingensief, der 2010 an Krebs starb, machten es gewissermassen vor.
Eine Publikationswelle folgte: Ausstellungen, Radiobeiträge und Filme widmeten sich dem Thema. Zur Sterbeliteratur zählt Corina Caduff nicht nur Werke arrivierter Autorinnen und Autoren wie Schlingensief, Jenny Diski, Péter Esterházy oder Wolfgang Herrndorf.
Ganz bewusst bezieht sie bei ihrer Forschung auch Onlinepublikationen ein. Denn gerade junge Menschen machen ihr Sterben oft global öffentlich. Wie Lisa Wagenführ filmen sie sich selbst im Krankenbett, führen «Cancer Journals», stellen Trauer-Podcasts online.
Sterben will geteilt sein – wie das Leben
In den Niederlanden wird dies sogar im Fernsehen praktiziert: Seit über zehn Jahren läuft dort eine Reality-Sterbe-Show. «Over Mijn Lijk» heisst sie, «Über meine Leiche». Überwiegend jüngere Todkranke werden gecastet und dann mit der Kamera begleitet.
Ist das pietätlos? Man dürfe solche Phänomene nicht gleich abtun, meint Corina Caduff. Sie entsprächen dem urmenschlichen Bedürfnis, den Schmerz zu artikulieren und so zu fassen.
Dasein und Zuhören bis zum Schluss
Dem pflichtet der reformierte Seelsorger und Psychotherapeut Pascal Mösli bei. Er ist führend in der Palliativseelsorge der Berner Kirchen. Gerade vom kirchlichen Milieu fordert er, Internet-Sterbeforen ernster zu nehmen.
Denn das sei die Aufgabe von Seelsorge: Dasein und Zuhören bis zum Schluss. Seelsorgende schenken Kranken ihr Ohr für die «Lebensbeichte». Das geschieht heute nicht mehr mit moralischem Zeigefinger, sondern auf Augenhöhe. Und eben auch online.
In Spitälern und Hospizen arbeitet die Seelsorge eng mit dem Pflegepersonal zusammen. Denn Pflegenden fehlt oft die Zeit fürs Zuhören.
Wer durch die Schmerzen Lebenslust und -sinn verliert, wird von den professionell Zuhörenden auf stärkende Lebenserfahrungen hingewiesen. Leidende könnten sich so aus ihrer eigenen Biografie heraus Perspektiven eröffnen.
Beim Erzählen entdecken Kranke, welche Kraft in ihnen steckt, um mit Schmerzen umzugehen. Das zu erleben, sei auch für ihn als Zuhörer beglückend, sagt Pascal Mösli.
Medizin und Pflege haben längst realisiert: In solchen Gesprächen wie auch in Spiritualität stecken grosses Potenzial. Sie nennen das «Spiritual Care».
Die eigene Lebensgeschichte fassen
So adaptierte die Palliative Care St. Gallen ein Modell aus Australien und Kanada: die «Dignity Therapy». Diese «Würde-Therapie» reagiert auf den häufig geäusserten Wunsch, «in Würde sterben» zu wollen.
Doch was heisst das? Befragungen in Spitälern weltweit zeigten, wie sehr den Menschen das Erzählen ihrer Lebensgeschichte fehlte.
In St. Gallen führt eine Logopädin solche Gespräche mit Schwerkranken. Sie protokolliert und bespricht den Lebensbericht mit den Todkranken. Ihnen händigt sie den Bericht dann wie eine Urkunde aus.
Das wirkt. Durch das Niederschreiben und den Austausch mit einer anderen Person erfahren Menschen Wertschätzung für ihr Leben. Sie erfahren im Rückblick wieder Sinn.
Über das Sterben reden im Erzählcafé
Für diese Erzählkultur braucht es Räume. Kirchen und Quartierzentren bieten Platz für Erzählcafés. Der Berner Pfarrer Christian Walti betreibt sein «Death-Café» in einer Bar: «Wir Lebenden tauschen bei einem Bier, Kaffee oder Tee aus, wie wir über den Tod denken und fühlen. Ziel ist es, die Grenze zwischen Leben und Tod zu diskutieren und den eigenen Horizont zu erweitern.»
Mit vielen anderen aus dem Palliativ-Netzwerk setzt sich Pfarrer Walti dafür ein, dass über Tod und Sterben öffentlich gesprochen wird. Dieses Thema dürfe nicht wieder an den Rand gedrängt werden.
Anfang November formulierte das Netzwerk die «Berner Charta für ein gemeinsam getragenes Lebensende» . Die Stadt Bern, Landeskirchen und Akteure der Palliativ-Arbeit legen darin das gemeinsame Bekenntnis ab, Menschen beim Sterben nicht allein zu lassen. Bern möchte so eine «mitfühlende Stadt» werden, die auch Trauernde nicht allein lässt.
Die meisten Spitäler investieren mittlerweile in Spiritual Care. Die reformierten Kirchen erweitern aktuell ihr Angebot an «Letzte-Hilfe-Kursen» für Angehörige. Dabei geht es auch um Kompetenz im Sprechen über Sterben und Tod. Weiter investiert wird auch in die Forschung am Lehrstuhl Spiritual Care der Universität Zürich.
Wo das Dorf noch gemeinsam trauert
Die Auseinandersetzung mit dem Tod in der Gemeinschaft hat eine weit zurückreichende Tradition. Das sieht, wer ins Bündner Dorf Vrin kommt: Hier steht eines der bekanntesten Beinhäuser der Schweiz.
Eingemauerte Totenschädel an der Aussenwand mahnen uns, dass wir alle einmal sterben werden: Memento Mori!
Ihre Toten bahrten die Vriner Familien früher daheim auf. Die Dorfgemeinschaft kamen zum Trauern vorbei.
Heute sind die Familien weit verstreut. Die Menschen sterben nur noch selten im Dorf, sondern zunehmend auswärts im Spital oder Altersheim. An der Tradition vom gemeinschaftlichen Trauern wollte die Vriner Bevölkerung aber festhalten: Sie wünschte sich eine öffentliche Aufbahrungskappelle.
Der Vriner Star-Architekt Gion A. Caminada bekam den Auftrag. Er wollte einen Ort für die Toten ebenso wie für die Lebenden schaffen. 2003 eröffnete Vrin seine «Stiva da Morts», eine moderne Totenstube neben dem barocken Beinhaus.
Nebst Aufbahrungsraum im unteren Stock gibt es oben einen Aufenthaltsraum: Eine Kochnische, ein langer Tisch und ein Sofa laden zum Verweilen ein. «Hier kann man auch Musik oder einen Witz machen», erzählt Caminada.
Auch dem Architekten ist es wichtig, dass der Tod nicht verdrängt und anonymisiert wird. «Tod und Trauer gehören in den Alltag integriert», sagt Caminada. Hierfür biete die Totenstube Raum.
Individualisierung des Sterbens
Tatsächlich wird die Vriner Totenstube aber immer seltener genutzt: «Letztes Jahr hatten wir keinen einzigen Todesfall», sagt Caminada. «Immer mehr Menschen wählen die Urnenbestattung», sagt Dorfpfarrer Dirk Jasinski. Der römisch-katholische Geistliche gibt zu, dass unterdessen mehr Architekturstudierende in die Stiva kommen als Trauernde.
«Die Menschen bringen die Urne immer erst am Tag der Bestattung. Vielleicht ist das einfach praktischer», kommentiert Pfarrer Jasinski den Wandel. «Allerdings verkürzt sich so auch die Zeit des gemeinschaftlichen Trauerns.». Solch eine gemeinsame Zeit könne einer Familie auch Halt geben.
Neue Traditionen zu lancieren ist also nicht so einfach. Und alte Traditionen, mit dem Tod umzugehen, haben es aktuell schwer wegen der pandemiebedingten Versammlungsbeschränkungen.
Der Pfarrer und seine Toten
Ein noch älteres Beinhaus aus dem Jahr 1514 steht im Oberwalliser Dorf Naters. Auf dem Weg zur Kirche gehen die meisten Menschen daran vorbei. Viele entzünden dort eine Kerze.
Unten im zweistöckigen Beinhaus liegen über 30'000 Totenschädel. Das seien alles «seine» verstorbenen Pfarreimitglieder, betont Priester Jean-Pierre Brunner. Denn für ihn gehören die Seelen der Verstorbenen zur Gemeinde dazu.
An die Lebenden verschickt Jean-Pierre Brunner täglich ein tröstliches Gebet über WhatsApp. Seine Messen in der Mauritius-Kirche überträgt er auf Youtube.
Aktuell erteilt der Walliser Priester auf Youtube seinen Jodelsegen , so auch am Totengedenktag «Allerseelen». Er versucht so, das Brauchtum ins Online-Zeitalter zu transformieren.
Umarmungen lassen sich nicht digitalisieren
Trotzdem sei das lange nicht dasselbe. Gerade bei Todesfällen fehle jetzt, zu Corona-Zeiten, die echte Gemeinschaft und deren gemeinschaftliche Totenrituale, sagt Brunner.
Zu echtem Beistand gehöre eben auch enger Kontakt. Umarmungen lassen sich nicht digitalisieren.