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Magellan vor 500 Jahren: Als die Welt zur Kugel wurde
Aus Kontext vom 17.09.2019. Bild: imago / Design Pics
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Übertreibungen aus Übersee Nackt und wild am Ende der Welt

In Übersee leben Riesen und Menschenfresser! Das behaupteten die frühen Seefahrer – mit fatalen Folgen für die Betroffenen.

20. September 1519: Vor 500 Jahren bricht Fernando Magellan mit fünf Schiffen und rund 270 Mann Besatzung zur ersten Weltumseglung der Geschichte auf. Niemand weiss so genau, auf was für Wesen man in Übersee stossen wird. Das Wissen um die Welt ausserhalb Europas ist äusserst gering.

Umso fantasievoller sind die Vorstellungen des Lebens am Ende der Welt: Vermutlich wohnen da Monster, Riesen und Drachen. Allesamt schauderhafte Wesen, die einem Weltbild entstammen, das noch stark vom Mittelalter geprägt war.

Ein Kind der Renaissance

Magellans Reise fällt in die Zeit der Renaissance und damit in eine historische Phase des Übergangs. Da gibt es beides: mittelalterlichen Volksglauben ebenso wie wissenschaftlichen Erkenntnisdrang.

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Stefan Zweig: «Magellan»
aus BuchZeichen vom 25.06.2017. Bild: zvg
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Typisch für dieses Nebeneinander sind denn auch die Ergebnisse der ersten Weltumseglung: Zum einen ist die Kugelgestalt der Erde erstmals wissenschaftlich bewiesen. Zum anderen stellen die 18 Überlebenden der Weltumseglung die indigene Bevölkerung in Übersee verzerrt dar, rücken sie in die Nähe von Fabelwesen – und zementieren damit bestehende Vorurteile.

Erste Weltumseglung: Literaturtipps

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Ein spanisches Geschwader unter dem Kommando des Portugiesen Fernando Magellan umsegelte zwischen 1519 und 1522 zum ersten Mal die Welt. Von den fünf Schiffen kehrte nur eines zurück. Nur gerade 18 der anfänglich rund 270 Mann Besatzung überlebten.

Die Literatur zu dieser epochalen Abenteuerreise ist gross. Unsere Lesetipps:

Der Roman-Klassiker

«Magellan. Der Mann und seine Tat» ist eines der stärksten Werke von Stefan Zweig. Der Österreicher veröffentlichte das Buch 1938. Es schildert die Weltumseglung und Magellans Biografie nah an den historischen Quellen und sprachlich brillant – wenn auch mit dem für Zweig typischen gelegentlichen Hang zur Heroisierung.

Stefan Zweig: «Magellan. Der Mann und seine Tat.» Fischer, zahlreiche Auflagen.

Die Roman-Neuerscheinung

«Eine Geschichte des Windes» des Österreichers Raoul Schrott bildet das Kontrastprogramm zu Zweig. Es erzählt die Geschichte der ersten Weltumseglung «von unten» durch die Augen des einfachen deutschen Kanoniers Hannes von Aachen. Der Mann war tatsächlich an Bord des ersten Weltumseglungs-Geschwaders. Mehr als sein Name ist jedoch nicht bekannt. Raoul Schrott schildert formal und stilistisch gekonnt, wie Hannes die epochale Reise erlebt haben könnte.

Raoul Schrott: «Eine Geschichte des Windes oder von dem deutschen Kanonier, der erstmals die Welt umrundete und dann ein zweites und ein drittes Mal.» Carl Hanser, 2019.

Das neue Magellan-Sachbuch

Der deutsche Historiker und Hispanist Christian Jostmann richtet sich mit seiner historischen Darstellung zu Magellan an eine Leserschaft, die gerne flüssig erzählte Sachbücher hat, welche aber wissenschaftlichen Standards entsprechen. Das Buch ist auf der Höhe des Forschungsstandes und zeigt Magellan weniger als Helden, denn als risikobereiten Spielertyp.

Christian Jostmann: «Magellan oder die erste Umsegelung der Erde.» C.H. Beck, 2019.

Der Augenzeugenbericht

Der italienische Ritter Antonio Pigafetta begleitete Magellan als Bordchronist und überlebte die Reise als einer der wenigen. Sein Bericht ist der umfangreichste Bericht eines Augenzeugen der ersten Weltumseglung.

Antonio Pigafetta: «Mit Magellan um die Erde. Ein Augenzeugenbericht der ersten Weltumsegelung 1519-1522.» Edition Erdmann, 2013.

Der Hörspielklassiker

Noch immer ein Hinhörer: die mehrteilige Hörspielproduktion zur ersten Weltumseglung aus den 1980er-Jahren. Das Werk überzeugt ebenso durch die sorgfältige Gestaltung wir durch die historische Faktentreue.

«Magellan – zum ersten Mal um den Erdball» (1/4)

«Magellan – zum ersten Mal um den Erdball» (2/4)

«Magellan – zum ersten Mal um den Erdball» (3/4)

«Magellan – zum ersten Mal um den Erdball» (4/4)

Urteilen statt hinsehen

So beschreibt Magellans Bordchronist Antonio Pigafetta in seinem umfangreichen Reisebericht zur ersten Weltumseglung an einer Stelle beispielsweise ausführlich das Volk der Tupinambá an der Küste Brasiliens.

Einerseits zeichnet er mit geradezu wissenschaftlicher Akribie Wörter der Einheimischen-Sprache auf. Andererseits schildert er jedoch die Menschen voreingenommen als «leichtgläubig», «heidnisch», «nackt» und «wild». Und sie seien «Kannibalen».

Ein überforderter Beobachter

Spätere Forschungen widersprechen dem Kannibalismus-Vorwurf heftig. Auch wenn es bei diesem Volk vereinzelt Fälle von rituellem Kannibalismus gegeben haben mag, übertreibt Pigafetta in seinem Bericht zweifelsohne das Ausmass.

Der Chronist berichtet also weniger von tatsächlichen Beobachtungen vor Ort. Dafür umso mehr davon, was er über das Fremde zu wissen meint. Warum? Aus Sensationslust? Vermutlich eher aus Überforderung, die ihm fremde Kultur intellektuell zu begreifen.

Die Figur des patagonischen Riesen

Ähnliches wiederholt sich, als die Spanier im Winter 1520 im Süden Argentiniens an Land gehen und dort auf die indigenen Tehuelche treffen.

Pigafetta schreibt: «Wir erblickten zu unserem Erstaunen einen Mann von Riesengrösse, der unbekleidet tanzte und sang und sich dabei Sand über den Kopf warf. Dieser Mann war so gross, dass ihm der Kopf des Grössten von uns nur bis zum Gürtel reichte.»

Abbildung eines indianischen Riesen, der neben einem kleinen, blau gekleideten Europäer steht.
Legende: Die Figur des patagonischen Riesen: Eine Erfindung der Europäer, die sich hartnäckig hielt. New York Public Library / Digital Collection

Pigafetta übertreibt erneut: Spätere Untersuchungen an Skelettfunden in voreuropäischen Gräbern ergeben den eindeutigen Befund, dass die Tehuelche mit ungefähr 1,80 m Körpergrösse zwar als stattlich gelten können. Riesen sind sie aber mit Sicherheit nie gewesen.

Magellan nennt die Tehuelche aufgrund ihrer behaupteten enormen Körpergrösse dennoch «Patagonier». Er tut dies höchstwahrscheinlich in Anlehnung an eine fantastische Gigantenfigur im damals in Spanien populären Ritterroman «Primaleon». Der fiktive Roman-Riese trägt den Namen «Patagon» und lebt unter Wilden auf einer entfernten Insel.

Ein zäher Mythos

Die Europäer projizieren in Südargentinien also ihre in der europäischen Kultur entstandenen Vorstellungen des Unbekannten erneut auf die tatsächlichen Gegebenheiten in Übersee. Und gebären einen Mythos.

Dieser erweist sich als zäh: Mehr als 200 Jahre lang gelten die «Patagonier» in der europäischen Gelehrtenwelt als Riesen. Spätere Reisende dichten ihnen bisweilen eine Grösse von bis zu dreieinhalb Metern an.

Fatale Folgen

Klischees wie das der patagonischen Riesen oder der menschenfressenden Tupinambá mögen aus heutiger Sicht amüsieren. Nicht nur Pigafetta sondern viele andere frühneuzeitliche Reisende verbreiten Derartiges über aussereuropäische Kulturen. Die Folgen sind fatal.

Die Stereotype stigmatisiert die Urbevölkerung, verwandeln sie in archaische Wilde ohne Kultur – und machen sie zu Freiwild. Das bietet europäischen Kolonialisten in den kommenden Jahrzehnten und Jahrhunderten immer wieder eine willkommene Legitimierung, um mit äusserster Brutalität fremde Kulturen zu zerstören und ganze Kontinente zu unterwerfen.

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