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Simon Scheidegger über Sprache und Behinderung
Aus Kultur-Aktualität vom 26.08.2022. Bild: ZVG
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Umgang mit Behinderung Ein Rollstuhl hält weder gefangen noch macht er zum Helden

Darf man noch «behindert» sagen? Der Journalist und Rollstuhlfahrer Simon Scheidegger plädiert für einen unverkrampfteren Umgang mit dem Begriff.

«Wie gross die Berührungsängste im Umgang mit Behinderung sind, spiegelt sich in den vielen Wendungen, die das Wort um jeden Preis vermeiden», sagt Simon Scheidegger.

Ihn stören Umschreibungen wie «Menschen mit besonderen Bedürfnissen» oder «Handicap». Sie seien gut gemeint, aber kontraproduktiv. «Behinderung ist ja nichts Schlechtes, sondern einfach eine Eigenschaft, die Menschen haben.» Übrigens nicht wenige, wie Scheidegger betont.

Ein junger Mann im Rollstuhl an einem Rockkonzert – auf Händen getragen von einer Menschenmasse.
Legende: Nur eine Eigenschaft unter vielen: In der Schweiz hat jede fünfte Person eine Form von Behinderung. So auch dieser Musikfan vor ein paar Jahren an einem Schweizer Openair. Keystone/Samuel Truempy

Laut WHO leben 15 Prozent aller Menschen mit einer Form von Behinderung. In der Schweiz sind es immerhin 1,8 Millionen Menschen. Von einer Randgruppe kann also keine Rede sein.

Wo fängt Wertung an?

Bleibt sprachliche Vorsicht nicht angebracht, solange auf dem Pausenplatz «behindert» als Schimpfwort kursiert? «Das zeigt, wie tief die Denkweise verankert ist, dass Behinderung etwas Defizitäres ist», erwidert Scheidegger. Dieser Wahrnehmung möchte er mit einer klaren, möglichst wertfreien Benennung entgegenwirken.

Wo genau Wertung in der Sprache anfängt – dazu gehen die Meinungen allerdings weit auseinander, ebenso die Interpretation verschiedener Ausdrücke.

Manche Betroffene wünschen zum Beispiel die Bezeichnung «Menschen mit Beeinträchtigung», während Scheidegger darin eine Vermeidungsstrategie sieht. Er zieht «Menschen mit Behinderung» vor.

Andere plädieren für «behinderte Menschen», weil so stärker zum Ausdruck komme, dass es gesellschaftliche Barrieren und Denkweisen sind, die Menschen behindern. Wesentlich ist hier, dass Behinderung in einem sozialen Modell verstanden wird, das die ganze Gesellschaft und nicht nur Betroffene in den Blick nimmt.

Demgegenüber stehe ein veraltetes medizinisches Modell, sagt Scheidegger: Die Vorstellung, Behinderung sei etwas, das vermieden oder geheilt werden müsse. Er empfiehlt, Betroffene am besten zu fragen, welche Bezeichnung sie wünschen.

«Nichts mit Gefangenschaft zu tun»

Sprache prägt die Wahrnehmung – und umgekehrt. Mindestens so wichtig wie das Wording ist für Simon Scheidegger die Art und Weise, wie über Menschen mit einer Behinderung erzählt wird.

In den Medien fallen ihm zwei Grundmuster auf: «Das eine Extrem ist die Mitleidsgeschichte. Da wird gerne ausführlich von einem Unfall berichtet und davon, was die Person alles ‹trotzdem› geschafft hat.»

Ein Athlet im Gespräch mit zwei Sportjournalisten, von ihnen getrennt durch einen Abschrankung, auf die er sich beugt.
Legende: Wenn hier etwas im Weg ist, dann diese Abschrankung: Sportjournalist Simon Scheidegger bei der täglichen Arbeit. Simon Scheidegger

Das obligate Wort «trotzdem» in solchen Schicksalsgeschichten geht ihm genauso auf die Nerven wie die pathetische Wendung «an den Rollstuhl gefesselt».

Ein Bild, das schief hängt: Der Rollstuhl habe nichts mit Gefangensein zu tun, sagt Scheidegger. «Er ermöglicht mir zu machen, was ich will. Er bedeutet für viele Menschen auf dieser Welt Freiheit.»

Scheidegger arbeitet als Sportjournalist für die Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Der Rollstuhl gehört zu seinem Alltag, da er mit einer zerebralen Bewegungsstörung geboren wurde.

Normalität statt Superheldentum

«Am anderen Ende des Spektrums steht die Superheldengeschichte», stellt Simon Scheidegger fest. Darin erscheint die Bewältigung alltäglicher Vorgänge als Spitzenleistung.

Video
Menschen mit Behinderung – Mittendrin oder am Rand?
Aus Club vom 07.09.2021.
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Auch das verzerre den Blick. «Menschen mit Behinderung sind keine Sensation», sagt Scheidegger. Und sie wollten auch keine Inspiration für andere sein, sondern einfach als normaler Teil der Gesellschaft angesehen werden.

Überhaupt liege der Fokus in der Berichterstattung viel zu oft auf der Behinderung, die ja nur eine von vielen Eigenschaften einer Person ist: «In einer inklusiven Gesellschaft wären Menschen mit Behinderung in den Medien auch als Expertinnen und Experten zu Themen gefragt, die damit nichts zu tun haben.»

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 26.08.2022, 08:15 Uhr

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