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Schreiben nach Gehör sorgt für Diskussionen
Aus Kultur-Aktualität vom 06.11.2018. Bild: Keystone
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Umstrittene Lernmethode Ist Schreiben nach Gehör ein grosser Fehler?

«Lautorientiertes Schreiben» in der Schule sorgt für Diskussionen. Wie nützlich oder schädlich die Lernmethode ist, ist schwer zu sagen: Sie ist kaum erforscht.

«Afe» statt «Affe», «Anxt» statt «Angst», «Schpass» statt «Spass»: So bringen Kinder Worte zu Papier, wenn sie «lautorientiert» schreiben.

Das Schreiben nach Gehör geht auf den verstorbenen Basler Reformpädagogen Jürgen Reichen zurück. Er entwickelte die Methode vor dreissig Jahren und revolutionierte so den Schreibunterricht im ganzen deutschsprachigen Raum: Nach Reichen sollen Kinder Wörter den Lauten entsprechend aufschreiben. Die Rechtschreibung spielt dabei vorerst keine Rolle.

Korrigieren, aber nicht bewerten

Diese Methode mache durchaus Sinn, sagt die Sprachwissenschaftlerin Regula Schmidlin von der Universität Freiburg: «Kinder erfahren dadurch, dass Schreiben eine Form der Kommunikation ist.»

Der Nachteil: «Schreiben nach Gehör gaukelt den Kindern vor, dass Orthografie nur dem Lautprinzop folgt und regelmässig ist. Das ist falsch», sagt Schmidlin. Denn in der deutschen Sprache werden gleiche Laute nicht immer gleich geschrieben – wie etwa bei den Wörtern «Tal», «Zahl» und «Saal».

Ein Schüler sitzt vor Buchstaben aus Holz, in eine Reihe hat er gelegt: «Mein Tir heiss L».
Legende: Nicht alles wird geschrieben, wie's klingt: Ein Erstklässler lernt Schreiben. Keystone / Christian Beutler

Deshalb schlägt Regula Schmidlin einen Mittelweg vor: Dass die Lehrerinnen und Lehrer den Kindern die Schreibfehler von Anfang an korrigieren, die Fehler aber bis zur dritten Klasse nicht bewerten.

Die Lautmethode solle sie nicht davon entbinden, Fehler aufzuzeigen: «Die Kinder wollen auch wissen, wie man etwas richtig schreibt.»

Wirkung ist kaum zu beurteilen

Ob Schreiben nach Gehör als Methode grundsätzlich gut oder schlecht sei, das lasse sich wissenschaftlich nicht auswerten, betont Schmidlin. Denn kaum eine Lehrerin oder ein Lehrer wende nur eine Methode an. Demnach gibt es keine Kinder, die nur nach gehörten Lauten oder nur nach strengen Orthografieregeln das Schreiben lernen.

Dies bestätigt Beat Zemp, Präsident des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz. In der Regel würden beide Lehrmethoden gemischt unterrichtet: «Anhand des Schreibens nach Gehör schaut man, wie ein Kind sich entwickelt. Dann konfrontiert man es relativ schnell mit der ‹Erwachsenenschrift›, der Buchschrift.»

Ein Verbot: Unnötig oder dringend nötig?

In den meisten Schweizer Kantonen werden die Primarschulkinder bereits nach dem «Lehrplan 21» unterrichtet. Dieser lässt den Lehrerinnen und Lehrern die Freiheit, welche Methode sie anwenden.

Trotzdem sorgt das Schreiben nach Gehör für Diskussionen. In Deutschland wurde die Methode teils verboten, etwa in Hamburg oder Baden-Württemberg. Auch in der Schweiz hat mit Nidwalden der erste Kanton diese Lernmethode aus den Schulzimmern verbannt.

Ein solches Verbot lehnt Beat Zemp ab: «Das ist ein unnötiger Eingriff in die Methodenfreiheit der Lehrerinnen und Lehrer. Sie sind die Fachleute für das Vermitteln des Lehrplanstoffes.» Und doch fordern viele Eltern und Vertreter aus der Wirtschaft, Kinder müssten besser Schreiben lernen. Die Jugendlichen von heute würden die Orthografie kaum beherrschen.

«Die Reaktionen aus Bevölkerung und Wirtschaft zeigen meist in die Richtung, dass man die lautorientierte Methode einschränken oder verbieten soll.» So hat es Stephan Schleiss erlebt, Bildungsdirektor im Kanton Zug und Präsident der Deutschschweizer Konferenz der Erziehungsdirektionen (D-EDK).

Bald eine politische Frage

Die D-EDK werde zurzeit keine Empfehlung aussprechen, sagt Schleiss. Denn schliesslich sei in der Schweiz laut Verfassung jeder Kanton selber für die Volksschule zuständig.

Die Frage, wie Primarschulkinder das Schreiben lernen sollen, wird aber in mehreren Deutschschweizer Kantonen bald auf politischer Ebene diskutiert. Sensibilisiert durch die Debatte in Deutschland und auch in der Schweiz, dürften Politikerinnen und Politiker die Diskussion mit entsprechenden Vorstössen aufs politische Parkett bringen.

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