Es gibt da diese Geschichte, die Susann Sitzlers Vater ihr immer wieder erzählt hat: Wie er sich kurz nach ihrer Geburt fast allein um sie gekümmert habe. Die Mutter musste oft ins Krankenhaus oder zur Kur. So wechselte der Vater die Windeln, machte das Fläschchen und tröstete das weinende Baby.
Wie hat er das wohl gemacht?
«Zuerst wird er beobachtet haben, wie diejenigen, die es schon konnten, vorgingen. (...) Dann wird er es selbst so lange probiert haben, bis er den Handgriffen traute. Ab dann überlegte er wahrscheinlich, ob es Möglichkeiten der Optimierung gibt. (...) Am Ende wird er für jede Aufgabe einen Ablauf gehabt haben, den er von nun an befolgte und nicht mehr zur Diskussion stellte.»
Das gemeinsame Leben nachzeichnen
Susann Sitzlers Vater war schon einige Jahre tot, als sie mit dem Schreiben für «Väter und Töchter» begonnen hatte. Dennoch zieht sich die Beziehung zu ihrem Vater als roter Faden durch ihr Buch.
Anhand von Gesprächen mit befreundeten Vätern und Müttern, Studienergebnissen und Erkenntnissen aus Soziologie und Psychologie zeichnet sie das gemeinsame Leben mit ihm noch einmal nach. Dabei kommt sie ihm, der teils verletzend und herabwürdigend war, noch einmal näher.
In den Trainingsring steigen
Gleichzeitig versucht sie aufzudecken, wie eine gute Beziehung von Vater und Tochter entstehen kann. Eine Voraussetzung sei, dass er sie ernst nehme und den Konflikten nicht aus dem Weg gehe, sagt Susann Sitzler.
Der Vater müsse sich trauen, besonders in der Pubertät, mit der Tochter auf Augenhöhe in den Trainingsring zu steigen: «So kann er sie begleiten und eine Art Sparringspartner für sie sein.»
Mit den Augen der Tochter
Im besten Fall könne die Tochter an der Überlegenheit des Vaters wachsen, schreibt die Autorin. Seine Stärke müsse er dabei gut dosieren. Denn lasse er die Tochter auflaufen, zerstöre er ihr Selbstvertrauen und verderbe ihr den Spass an der Herausforderung.
«Ein Vater, der sich mit seiner Tochter identifiziert und ihren Blickwinkel einzunehmen versteht, kann ihr unendlich viel Mut machen und ihr wichtige Dinge beibringen.»
Die Tochter wiederum müsse ihren Vater irgendwann aus der Idol-Rolle entlassen und sich klar machen: «Er ist womöglich ein super Vater, aber vor allem ein Mensch – einer, der Dinge gut und auch weniger gut macht. Und das reicht auch.»
Kaleidoskop über Rollenklischees
Dies ist aber nicht nur ein Buch über die Wechselbeziehung von Vätern und Töchtern. Es ist auch eines über Männlichkeit, Rollenklischees, Emanzipation – auch von Männern – und Geschlechtergerechtigkeit:
«(...) auch transformationsfreudige Männer sind pragmatisch. Nur um bessere Menschen zu sein, werden nicht allzu viele Väter dauerhaft mehr häusliche Aufgaben übernehmen, um dafür ihre Frauen zu entlasten und ihren Kindern ein reichhaltigeres und flexibleres Rollenbild vorzuleben. Sie werden es tun, wenn es sich für sie und ihre Familie in irgendeiner Weise lohnt. Und wenn es ihrem Selbstbild entspricht.»
Indem Susann Sitzler die vielen Facetten von männlich und weiblich – ausgehend von der Vater-Tochter-Beziehung – beleuchtet, hat sie ein Buch geschrieben, das einen unweigerlich an die eigene Familiengeschichte heranführt und mit den teils verknöcherten Sichtweisen konfrontiert. Ein Buch für Väter und Töchter, wie auch für Mütter und Söhne.