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Vererbtes Trauma «Kriegsenkel haben oft das Gefühl, sie würden versagen»

Viele Kriegsenkel seien zwar beruflich erfolgreich, aber dennoch rastlos, sagt die Therapeutin Ingrid Meyer-Legrand.

SRF: Sie arbeiten in Ihrer psychologischen Praxis therapeutisch mit Kriegsenkeln. Wie äussert sich deren Leiden konkret?

Zur Person

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Legende: m7institut.de

Ingrid Meyer-Legrand ist systemische Therapeutin und Coachin. Sie lebt in Berlin und hat sich auf die psychologische Problematik der Kriegsenkel spezialisiert.

Ingrid Meyer-Legrand: Generell sind es Männer und Frauen, die zwischen den 1950er- und den 1980er-Jahren geboren wurden. Es sind die Kinder der Kriegskinder, die wiederum zwischen 1928 und 1946 geboren wurden.

Kriegsenkel haben es in ihrem beruflichen Leben oft weit gebracht. Dennoch sind sie rastlos auf der Suche nach ihrem Platz im Leben. Typisch für Kriegsenkel ist das Gefühl, nie angekommen zu sein und keine innere Zufriedenheit zu finden.

Was ist die Ursache?

Zum einen hat die Rastlosigkeit oft mit der heutigen gesellschaftlichen Situation zu tun, die die Einzelnen dazu antreibt, sich ständig neu zu erfinden. Zum anderen kann eine Ursache aber auch darin bestehen, dass diese Menschen bei kriegstraumatisierten Eltern aufgewachsen sind.

Die Nazis haben die Jugend zu blindem Gehorsam erzogen.

Kriegsenkel leiden also an Traumata, welche gar nicht sie selbst erlitten haben, sondern ihre Eltern?

Ja. Die Eltern der Kriegsenkelgeneration, die Kriegskinder, wuchsen zur Zeit des Nationalsozialismus auf, erlebten Krieg, Bomben, Flucht und Vertreibung. Hinzu kam, dass die Nazis die Jugend zu blindem Gehorsam erzogen.

Buchhinweis

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Ingrid Meyer-Legrand: «Die Kraft der Kriegsenkel. Wie Kriegsenkel heute ihr biografisches Erbe erkenne und nutzen». Europa Verlag 2016.

All dies konnten die Kriegskinder nie verarbeiten. Sie waren eine traumatisierte Generation – und dies hat auch die Kindheit der Kriegsenkel nachhaltig geprägt.

Wie das?

In den Jahrzehnten nach dem Krieg kam es in vielen deutschen Familien zu einer brisanten Situation: Damals wurden die Kriegskinder selbst Eltern. Weil sie jedoch ihre Traumata nie verarbeiten konnten, agierten sie gegenüber ihren Kindern oftmals einfach ihr Traumata aus: Gewaltausbrüche, Gefühlskälte, Alkoholmissbrauch.

In anderen Familien wiederum litten die Eltern still vor sich hin. Kinder spüren es aber, wenn etwas mit ihren Eltern nicht stimmt. Kinder in solchen Familien neigen generell dazu, das Leid ihrer Eltern mildern zu wollen. Sie werden zu Eltern ihrer Eltern.

Kriegsenkel finden oft ihren Platz im Leben nicht.

Ein Rollentausch, der die Kriegsenkel in der Kindheit heillos überfordern muss …

Natürlich, kein Kind kann die Verantwortung für die Eltern übernehmen. Zwar können Kinder eine Weile diese Rollenumkehr verkraften und auch daran wachsen, doch wenn sie diese Rolle langfristig übernehmen, können Kinder Schaden nehmen.

Wie rächt sich diese Prägung im Erwachsenenalter konkret?

Erwachsene Kriegsenkel haben oft das Gefühl, sie würden versagen, würden nicht genügen und seien nur dann liebenswert, wenn sie etwa im Beruf eine dreifache Leistung erbringen. Auch geben sie in ihren Beziehungen oft mehr als sie nehmen. Und sie haben gelernt, immer gleich für den ganzen Laden verantwortlich zu sein.

Sie waren beispielsweise oft die Mediatoren ihrer sich streitenden Eltern, darum blieben auch andere Rollen diffus, etwa diejenige unter den Geschwistern. Dies führte dazu, dass Kriegsenkel oft ihre Rolle oder ihren Platz im Leben nicht finden. Sie scheinen sich immerzu zu fragen, wer sie gerade sind.

Es ist kein Zufall, dass wir viele Kriegsenkel in sozialen Berufen antreffen.

Derzeit nimmt in Deutschland die Zahl der Kriegsenkel zu, die ihre Problematik psychologisch aufarbeiten. Wie gehen Sie in Ihrer Praxis konkret vor?

Ich rekonstruiere zusammen mit dem Betroffenen wichtige Stationen in der Biographie. Was ist damals mit mir geschehen? Gleichzeitig – und das ist das Entscheidende – arbeiten wir im Gespräch heraus, was die Kriegsenkel in jener besonderen Situation auch gelernt haben. Das sind die Potenziale, über welche die Kriegsenkel verfügen. Und diese sind oft enorm.

Zum Beispiel?

Weitere Literatur

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  • Sacha Batthyany: «Und was hat das mit mir zu tun?». Kiepenheuer&Witsch 2016.
  • Naomi Schenck: «Mein Grossvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12». Hanser, 2016.
  • Stefan Slupetzky: «Der letzte grosse Trost». Rowohlt, 2016.
  • Raymond Unger: «Die Heimat der Wölfe. Ein Kriegsenkel auf den Spuren seiner Familie». Europa Verlag, 2016.

Kriegsenkel haben beispielsweise oft ein überdurchschnittliches Empathievermögen. Es ist kein Zufall, dass wir viele Kriegsenkel in sozialen Berufen antreffen. Oder sie zeichnen sich durch grosse Führungsqualitäten aus.

Das haben sie in der Kindheit als vermeintliche Chefs in den Familien gelernt?

Genau, und sie wenden diese Potenziale auch an: Es kommt nicht von ungefähr, dass es gerade die Generation der Kriegsenkel ist, welche unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten enorm gestaltet und verändert hat.

Wenn Kriegsenkel derartige Mechanismen in ihrer Biographie verstehen, tritt oft eine Versöhnung mit dem eigenen Weg ein oder so etwas wie Heilung.

Werden wir in ein paar Jahren in Deutschland von der Problematik der Kriegs-Ur-Enkel hören?

Es kommt ganz darauf an, wie weit wir als Gesellschaft in der Lage sind, die Generationen übergreifenden Traumatisierung therapeutisch oder durch ein verständnisvolles Umfeld zu stoppen. Da muss noch viel getan werden.

Insbesondere muss immer wieder über die Verstrickung der Grosseltern der Kriegsenkel in die NS-Verbrechen gesprochen werden. Deren Schuld spielt auch bei den Kriegs-Ur-Enkeln immer noch eine grosse Rolle und lässt sie ebenso nicht ankommen. Sie meinen, die Schuld ihrer Vorfahren abtragen zu müssen und erlauben sich aus dem Grund nicht, erfolgreich und zufrieden zu sein.

Das Gespräch führte Felix Münger.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 10.2.2017, 9 Uhr

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