In Jarnadapur, einem Dorf nahe der nordostindischen Grossstadt Cuttack, herrscht fast städtisches Getriebe. Keineswegs alle Bewohner des Dorfs sind bitterarm.
Die Familie des Lehrers Pravat Barik, zum Beispiel, lebt in einem schmucken Steinhaus. Neben der Eingangstür stehen zwei Mopeds; Pravats Frau Sukodei kocht auf einem modernen Gasherd.
Auf dem Betonboden der Terrasse jedoch sitzt eine magere Frau in lachsrot-lila geblümtem Kleid und gelber Jacke. Sie spricht ununterbrochen vor sich hin. «Senadei, die Schwester meines Mannes», sagt Sukodei Barik.
Selbstgespräche auf der Terrasse
Seit sieben Jahren sitze Senadei auf der Terrasse, schreie und schlage um sich, sagt die Schwägerin. «Anfangs brachten wir sie ein paarmal zum Gunia, zum traditionellen Heiler. Dessen Rituale aber halfen nicht.»
Vor fünf Jahren fuhr Pravat Barik mit seiner Schwester nach Cuttack, ins psychiatrische Krankenhaus. Der Arzt dort diagnostizierte eine Psychose und verschrieb ihr Tabletten.
«Die aber spuckte Senadei dauernd aus», berichtet die Schwägerin. «Und wir hatten irgendwann keine Lust mehr, ihr mit den Tabletten hinterherzurennen. Jetzt sitzt sie halt da; und ich muss sie füttern und waschen – wie ein kleines Kind.»
Weiss gekachelte Zwölf-Bett-Zimmer
In der Stadt Cuttack stehen auf dem weitläufigen Gelände des staatlichen Medical College die Flachbauten des Instituts für psychische Gesundheit – eins der wenigen Krankenhäuser im Bundesstaat Odisha, das psychische Erkrankungen behandelt.
In den weiss gekachelten Zwölf-Bett-Zimmern der Frauenstation sitzen oder liegen Patientinnen auf Betttüchern oder blanken Matratzen. Fast neben jedem Bett wachen ein oder zwei Angehörige.
Heirat ist wichtiger als Gesundheit
Eine junge Frau mit feingeschnittenem Gesicht starrt gegen die Wand – argwöhnisch beobachtet von ihrer Mutter, die einen teuren Sari und viel Goldschmuck trägt. Manasi Panda, die für die Station verantwortliche Sozialarbeiterin, schüttelt den Kopf.
Die junge Frau leide seit zwei Jahren an Schizophrenie, erzählt sie, ihr älterer Bruder seit fünf Jahren. Von diesem Bruder sei sie mehrmals vergewaltigt worden. «Jetzt haben die Eltern Angst, dass die Leute vom Schicksal der Tochter erfahren und niemand sie heiratet. Ihnen liegt die Verheiratung ihrer Tochter offenbar mehr am Herzen als deren Gesundheit.»
Knüppel und Gitter
Ein Wachmann mit einem langen Holzknüppel in der Hand öffnet die Gittertür zu einem dunklen Trakt fast ohne Fenster: Die geschlossene Frauenstation. Abbröckelnde Kacheln, schmutzige Fussböden; auch die Gänge vollgestellt mit Betten. Frauen schreien, weinen, wimmern, sprechen ins Nichts. Es riecht beissend nach Schweiss, Urin und Fäkalien.
Die wenigen Psychiater hier behandelten fast ausschliesslich mit Medikamenten, berichtet die Sozialarbeiterin. Für begleitende Psychotherapie fehle meist die Zeit.
Versteckt und misshandelt
Immerhin, die Familien der Patienten stünden in der Regel zu ihren kranken Angehörigen, sagt Manasi Panda – allerdings nur, wenn es sich um Männer handle. Gerade mal ein Viertel der Patienten in diesem Krankenhaus seien Frauen.
Psychisch kranke Frauen würden von ihren Familien oft versteckt, bestätigt die Psychotherapeutin Itimayee Panda. Sie würden brutal geschlagen, wenn sie nicht «normal» funktionierten, und im Extremfall fortgejagt. Itimayee Panda leitet Mission Ashra – das einzige Heim für psychisch kranke Frauen im Staat Odisha, nahe der Hauptstadt Bhubaneswar, betrieben von der Hilfsorganisation People’s Forum.
Ruhelosigkeit, Zuflucht und ein Lächeln
Das Langgestreckte, rot gestrichene Gebäude bietet Schlafplätze für 240 Frauen. Einige liegen auf Schlafmatten oder dem Betonboden der Säle. Andere sitzen im Schatten der mit Stroh überdachten Terrasse oder laufen ruhelos hin und her, sprechen mit sich selbst, murmeln, singen.
Eine Atmosphäre der Zuflucht vor dem Bösen draussen, aber auch beklemmender Einsamkeit – gemildert nur durch zwei junge Frauen, die einander liebevoll im Arm halten und lächeln.
«All diese Frauen haben keine Familie mehr», sagt Itimayee Panda. «Man hat sie auf der Strasse aufgelesen und im Polizei- oder Krankenwagen zu uns gebracht. Auch Frauen, die Angehörige in der Psychiatrie von Cuttack quasi entsorgen, landen schliesslich bei uns.»
Würde zurückgeben
Nur ein Viertel der Frauen ist ansprechbar. Auch deshalb schaffen es Mitarbeiterinnen der Mission Ashra oft nicht, die Ursprungsfamilie ausfindig zu machen.
Einmal wöchentlich komme ein Psychiater, der Medikamente verschreibe, berichtet Itimayee Panda. Zwei junge Psychologinnen führten, soweit möglich, Gespräche. Es gebe Veranstaltungen, bei denen im Heim lebende Frauen tanzen und Geschichten erzählen. «Wir tun alles, um den verstossenen Frauen ihre Würde zurückzugeben.»
Das Heim jedoch sei – wie das Krankenhaus in Cuttack – völlig überfüllt, klagt die Leiterin schliesslich. Täglich müssten Frauen abgewiesen werden. Der indische Staat zahle gerade hundert Rupien, 1.25 Euro, pro Patientin und Tag.
Das zeigt einmal mehr, wie wenig das Schicksal psychisch kranker Frauen Gesellschaft und Staat in Indien berühren. Die Aussichten, dass sich dies grundlegend ändert, sind nicht besonders gut.