Zum Inhalt springen

Header

Audio
Yves Kugelmann zum Verrat von Familie Frank
Aus Kultur-Aktualität vom 19.01.2022. Bild: Getty Images / Pool
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 51 Sekunden.
Inhalt

Verrat an Anne Frank Yves Kugelmann: «Das ist mehr Event als seriöse Untersuchung»

US-amerikanische Ermittler wollen herausgefunden haben, dass es ein jüdischer Notar war, der 1944 in Amsterdam das Versteck von Familie Frank den Nazi-Behörden verraten haben soll. «Mit 85-prozentiger Wahrscheinlichkeit» sei dieser Mann der Verräter, teilten die Ermittler mit.

Bis zur Tatsache fehlen also 15 Prozent. Für Yves Kugelmann, Chefredaktor des jüdischen Wochenmagazins «Tachles», sind diese «Enthüllungen» primär ein Event – und haben wenig mit einer seriösen Untersuchung zu tun.

Yves Kugelmann

Yves Kugelmann

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Der Journalist Yves Kugelmann ist Chefredaktor des jüdischen Wochenmagazins «Tachles» und eine wichtige Stimme der jüdischen Schweiz. Für den zweiteiligen Dokumentarfilm «Jüdisch in Europa» reiste er 2018 gemeinsam mit der Filmproduzentin Alice Brauner durch 5 Länder und 9 Städte Europas.

SRF: 85 Prozent Wahrscheinlichkeit: Ist es nicht heikel, mit so seiner Vermutung an die Öffentlichkeit zu gehen?

Yves Kugelmann: Es ist vor allem völliger Humbug. Es gibt entweder 100 Prozent Sicherheit oder null Prozent Sicherheit. Gerade bei exakten Wissenschaften wie der Einordnung einer Täterschaft muss man zu 100 Prozent sicher sein – sonst kann man keine Aussage und schon gar keine Verurteilung vornehmen.

Als angebliches Beweisstück dient ein anonymer Brief aus dem Jahr 1946: Otto Frank, der einzige Überlebende der Familie Frank, hatte ihn mit einer Schreibmaschine abgetippt. Erscheint Ihnen diese Beweisführung glaubwürdig?

Ich kenne die Quellen nicht. Wir haben sie nicht gesehen. Ich habe das Buch («The Betrayal of Anne Frank: A Cold Case Investigation», Anm. d. Red.) auch erst jetzt konsultieren können. Dort gibt es keine Evidenz, dass das alles glaubwürdig ist.

Wie ich die Reaktionen aus Holland und aus den Experten- und Historikerkreisen einordnen würde, wird diese «Forschung» in der Luft zerrissen. Das ist mehr Event als seriöse Untersuchung. Wahrscheinlich ist es auch die richtige Entscheidung gewesen, dass der Anne Frank Fonds von Anfang an gesagt hat, dass er hier nicht kooperiert.

Diese These, ein Jude habe die Familie Frank verraten, kursiert nun öffentlich und ist auch nicht mehr auszuradieren. Welche Folgen hat das?

Vielleicht muss man sagen, es war zuerst einmal ein Holländer und nicht ein Jude. Egal, wer es am Schluss gewesen war – das Verrat-System war ja systematisch organisiert in Holland. Viele dieser Familien wurden verraten und daraufhin deportiert und umgebracht, wie auch im Falle der Versteckten im Hinterhaus von Amsterdam.

Für den Anne Frank Fonds macht es keinen Unterschied, wer am Schluss der oder die Verräterin war.

Otto Frank war der einzige Überlebende – ihm selbst war es nie so wichtig, wer am Schluss der Verräter oder die Verräterin war. Er hat damit abgeschlossen. Wir haben uns immer gesagt, dass wir uns nicht an Spekulationen beteiligen. Wenn aber neue erhärtete Fakten auf dem Tisch liegen, dann würden wir diese sehr gerne beurteilen. Aber im Moment gibt es diese neuen Fakten nicht.

Wem nützt diese These, dass ein jüdischer Notar verdächtigt wird?

Wenn man ins Netz geht und wenn man die ersten Reaktionen anschaut, dann sieht man sofort, woher die Reaktionen und auch die Freude über diese Vermutung kommen. Gerade in Holland, aber auch in den sozialen Medien, gibt es viele Stimmen, die sagen: «Ach ja, es waren ja die Juden selbst und gar nicht die Holländer» und so weiter – der übliche Schwachsinn von Leuten, die solche Themen schwierig einordnen können.

Alle, die dort mitgearbeitet haben, haben nicht viel zu ihrer positiven Reputation beigetragen.

Wir leben in einer offenen, freien Gesellschaft: Jeder kann tun und lassen, was er will. Man muss einfach mit den Konsequenzen einer offenen Diskussion rechnen – und das ist ja jetzt der Fall: Das Buch wird massiv kritisiert, und auch die «Experten» werden massiv kritisiert. Alle, die dort mitgearbeitet haben, haben vermutlich nicht viel zu ihrer positiven Reputation beigetragen.

Das Gespräch führte Raphael Zehnder.

Video
«Tagebuch der Anne Frank» im Internet zugänglich
Aus Tagesschau vom 02.01.2016.
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 23 Sekunden.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 19.01.2022, 17:10 Uhr;

Meistgelesene Artikel