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Volksproblem Einsamkeit «Einsamkeit darf kein Tabu mehr sein»

Corona hat uns einsamer gemacht. Aber: Obwohl kaum sichtbar, war die Einsamkeit schon davor weit verbreitet. Um diesen «sozialen Durst» zu stillen, sei die Gesellschaft als Ganzes gefordert, sagt Psychologe Tobias Krieger.

Tobias Krieger

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Tobias Krieger ist Psychotherapeut, leitender Psychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Bern. Derzeit führen er und sein Team zwei Studien zu Einsamkeit durch.

SRF: Was ist der Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit?

Tobias Krieger: Ob ich allein bin, kann man von aussen sehen. Ob ich mich aber einsam fühle, das weiss nur ich selbst. Alleinsein ist ein objektiver Umstand. Einsamkeit ein Gefühl.

Und was ist das für ein Gefühl?

Ein unangenehmes Gefühl, eine Sehnsucht nach mehr Verbundenheit mit bestimmten Menschen, oder nach mehr Kontakten zu Menschen. Ein «sozialer Durst» sozusagen, ein Gefühl also, das uns aufzeigt, dass ein menschliches Grundbedürfnis gerade nicht befriedigt ist.

Manche einsame Menschen sehnen sich nach intimen Beziehungen, andere nach mehr Freundschaften, wieder andere nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Einsamkeit wahrzunehmen ist wichtig, um aktiv werden zu können, um wieder mehr Verbundenheit aufzubauen. Schwierig wird es jedoch, wenn man das Gefühl hat, darauf keinen Einfluss mehr nehmen zu können.

Welche Menschen sind besonders anfällig für dieses Gefühl?

Ursachen für Einsamkeit sind sehr vielfältig. Menschen, die wichtige Bezugspersonen verlieren, oder negative zwischenmenschliche Erfahrungen gemacht haben, aber auch Menschen, die sich von der Gesellschaft nicht akzeptiert oder vernachlässigt fühlen. Neben den Lebensumständen spielen also sicherlich auch gesellschaftliche Normen eine Rolle.

Gibt es auch Menschen, die sich einsam fühlen, obwohl sie nicht sozial isoliert sind?

Ja. Auch Menschen können sich einsam fühlen, die von aussen gesehen Beziehungen haben, deren Qualität jedoch nicht so ist, dass ihr Bedürfnis nach Verbundenheit befriedigt ist.

Einsamkeit ist ein sozialer Durst.

Menschen, die sich über eine längere Zeit einsam fühlen, haben oft auch ein geringes Selbstwertgefühl. Sie haben ein negatives Bild von sich selbst. Und manchmal auch von anderen.

Heisst das, einsame Menschen haben ein schlechteres Menschenbild?

Das kann sein, wenn Einsamkeit über längere Zeit anhält. Darin liegt auch ein zentrales Problem: Einsame Menschen haben dann Mühe, auf andere zuzugehen und ihnen zu vertrauen. Aus Angst vor Enttäuschung, vor Verletzung.

Gewisse einsame Personen ziehen sich daher mehr und mehr zurück. Es entsteht ein Teufelskreis. Sie isolieren sich. Oder sie flüchten sich in eine Rolle und getrauen sich nicht mehr, sich selbst zu sein und sich zu zeigen.

Sind einsame Menschen also weniger authentisch?

Dies kann vorkommen, wenn die Angst vor Verletzung und Zurückweisung sehr stark ist. Man spielt eine Rolle, weil man glaubt, man selbst sei nicht gut genug. Das Problem dabei ist, dass dadurch keine für sich befriedigenden Beziehungen entstehen können.

Einsamkeit darf kein Tabu mehr sein.

Dagegen braucht es Mut, sich selbst sein zu dürfen; ein positiveres Bild anderer Menschen; mehr Vertrauen in sich selbst und in andere. Das ist einfacher gesagt als getan und bedarf unter Umständen auch professioneller Unterstützung.

Was sind die Folgen dieser Einsamkeit?

Einsamkeit ist nicht per se negativ. Wenn sie aber intensiv und überdauernd ist, kann sie negative Folgen auf physischer und psychischer Ebene haben, wie Schlafprobleme, kognitive Einbussen, kardiovaskuläre Erkrankungen, Ängste oder auch Depressionen.

Fühlen Sie sich einsam?

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Die Telefonnummer 143 – Die Dargebotene Hand ist rund um die Uhr da für Menschen, die ein helfendes und unterstützendes Gespräch benötigen. Das Schweizer Sorgentelefon bietet Anrufenden völlige Anonymität. Die Dargebotene Hand kann man auch schriftlich per Mail- oder Chat-Kontakt erreichen.

Das Beratungsangebot 147 unterstützt Kinder und Jugendliche rund um die Uhr, wenn sie kleine oder grosse Sorgen, Probleme oder Fragen haben – über Telefon, Chat, SMS-Nachricht oder E-Mail und immer kostenlos und vertraulich.

Studien zeigen: In der Schweiz leidet jede dritte Person an Einsamkeit. Mit Corona hat das Gefühl noch zugenommen. Was müssen wir als Gesellschaft dagegen tun?

Es braucht Massnahmen auf unterschiedlichen Ebenen. England hat ein Ministerium für Einsamkeit. Aber neben gesundheitspolitischen Massnahmen und geeigneten Anlaufstellen braucht es auch eine Sensibilisierung für das Thema: Einsamkeit darf kein Tabu mehr sein.

Dann gelingt es den Betroffenen leichter, über ihre Einsamkeitsgefühle mit anderen zu sprechen. Zudem ist es wichtig, dass wir auf unsere Mitmenschen zugehen.

Helfen uns die sozialen Netzwerke gegen Einsamkeit?

Ja und nein. Wenn wir uns auf diesen Plattformen nur perfekt inszenieren oder einfach nur passiv konsumieren, dann kann sich die Einsamkeit verstärken. Studien aus den USA zeigen, dass die Einsamkeit bei Jugendlichen in den letzten Jahren zugenommen hat.

Neue Kommunikationstechnologien haben aber auch Möglichkeiten geschaffen, um mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Es spielt also vielmehr eine Rolle, wie neue Medien genutzt werden, und dass der persönliche Kontakt nicht gänzlich verloren geht.

Das Gespräch führte Yves Bossart.

Sendung: SRF 1, Sternstunde Philosophie, 14.02.2021, 11:00 Uhr ; 

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