Das Einhorn ist eine prima Projektionsfläche für den Traum vom Unschuldigen und Wilden, von Liebe und Einzigartigkeit und sonstigen Sehnsüchten jeglicher Art – seit 3000 Jahren. Einige wollen es gesehen haben. Andere haben davon gehört. Aber eingefangen haben es bisher nur Jungfrauen.
Das Tier, dessen Horn wundersame entgiftende Eigenschaften haben soll, wird bereits in der Antike von Gelehrten beschrieben. Im Mittelalter erhält es sogar einen Platz auf der Arche Noah. Heute ist es lukrative Cashcow der Spielzeugindustrie und Maskottchen der LGBTQ+-Community.
Es gibt Einhörner aus Plüsch und Plastik, als Ballon oder Schwimmring, es gibt sie in Film und Buch oder als Stirnhorn-to-go für Kinder und je nach Belieben auch für den Hund.
Das Einhorn ist aber seit jeher auch Gegenstand ernsthafter Wissenschaft. Mit magischer Wirkung auf Laien. Das hat Julia Weitbrecht erfahren. Sie hat im vergangenen Jahr zusammen mit Bernd Roling ein Buch zum Tier geschrieben.
Der Titel wurde zum unerwarteten Erfolg und Julia Weitbrecht zur gefragten, nicht ganz freiwilligen Einhornexpertin. «Ich bin vom Einhorn überrannt worden.»
Unterdessen hat sie sich mit dem Tier und dem Erfolg eingerichtet: «Ich habe mein Schicksal angenommen», schmunzelt sie. Als Mittelalterforscherin komme sie am Einhorn eh nicht vorbei. Immer wieder stosse sie auf neue Aspekte des Fabelwesens, das die längste Zeit keines war.
Kein Zweifel: Das Einhorn lebt
Bis in die frühe Neuzeit gab es keinen Zweifel: Das Einhorn lebt. Man fragte sich nur, wo man es findet, wie es aussieht aus und wie man es fängt. Schon antike Zoologen haben es im Detail beschrieben. Feldforschung gab es damals allerdings noch nicht. Man vertraute auf das, was andere geschrieben hatten.
«Das ist eine anerkannte Texttradition. Man nimmt ernst, was dasteht und geht nicht davon aus, dass man das noch beweisen muss», so Julia Weitbrecht. Man schreibt voneinander ab. Sammelt, gliedert, ordnet das zugetragene Wissen mit enzyklopädischem Anspruch und versucht das ganze Tierreich abzubilden. Dazu gehört eben auch das Einhorn.
Ein wildes, unzähmbares Tier
Der griechische Leibarzt Ktesias etwa trägt Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. zusammen, was damals über den indischen Subkontinent zu erfahren ist. In seinen «Indikà» beschreibt er eine Vielfalt äusserst eigenartiger Wesen, wie Elefanten, Greife, hundsköpfige Menschen, menschenköpfige Löwen und ein Tier mit Stirnhorn. Dieses sei wild wie ein Esel, manchmal grösser als ein Pferd und schneller als jedes andere Tier. Es habe einen dunkelroten Kopf, dunkelblaue Augen und sei nicht einzufangen.
Auch Plinius der Ältere listet in seiner «Historia naturalis» im Jahr 77 n. Chr. ein Tier auf, das in Indien leben soll, äusserst wild ist, dumpf brüllt, ein schwarzes Horn trägt und sich nicht fangen lässt.
Das Einhorn ist also äusserst wild. Keine Spur von Bambi-Blick und Regenbogenmähne, sondern ein jägermordendes, unzähmbares Wesen. Das ist kein sympathisches Huftier, weiss Julia Weitbrecht: «Interessant ist, dass es an keiner Stelle wie ein anmutiges Pferd auftritt. Die Darstellung von Einhörnern, wie wir sie heute in Kinderzimmern antreffen, kommt tatsächlich erst später.»
Das Einhorn schrumpft
Eine wundersame und mehr oder weniger definitive Einhornschrumpfung ereignet sich im 2. Jahrhundert n. Chr. Das Einhorn geht ein auf Schossgrösse. Es sei klein wie ein Blöcklein. So steht's im «Physiologus», einer frühchristlichen Naturlehre, deren erste Überlieferungen im damaligen Alexandrien entstehen.
Die Enzyklopädie beschreibt Pflanzen, Steine und Tiere, darunter auch ein ziegengrosses Wesen mit Stirnhorn, das Monoceros: «Das Einhorn ist ein kleines Tier, ähnlich einem Zicklein, hat ein Horn auf dem Kopf und ist sehr kühn. Niemand kann es fangen.»
Der Text verbreitet sich rasch, wird aus dem Griechischen in viele Volkssprachen übersetzt und prägt die Vorstellungswelt der Menschen im christlichen Orient und mittelalterlichen Europa. Trotz der Reduktion von L- zu S-Size bleibt das Tier stark. Es lasse sich nicht mit Gewalt überwinden. Dafür mit Sanftheit.
Die Jungfrau als Köder – eine spezielle Jagdtechnik
Mit dem «Physiologus» kommt auch erstmals die Jungfrau ins Spiel. «Ein folgenreiches Detail», sagt Julia Weitbrecht. Fortan dient die Jungfrau als Lockmittel, das die folgenden Jahrhunderte in Worten und Bildern überdauern wird. Nur eine reine, schön gekleidete Jungfrau nämlich kann das ziegengrosse Einhorn mit seinem überaus leicht erregbaren Temperament einfangen und zähmen.
Und das geht laut «Physiologus» so: Man setzt die schön gekleidete Jungfrau auf einer Lichtung als Köder aus. «Sobald es sie sieht, springt es in ihren Schoss und schläft dort ein. Nur dann kann man es einfangen und zum König bringen.»
Es ist der süsse Duft der Jungfrau, dem das Böcklein erliegt. Mit seinem Hüpfer in den Schoss der Jungfrau besiegelt es sein irdisches Schicksal. Es ist ein Sprung in den Tod. Eine ziemlich spezielle Jagdtechnik. Und eine ganze Menge Symbolik: erotische und christliche.
Frömmigkeit und Erotik – kein Widerspruch
Im Mittelalter haben Reinheit und Lust kein Problem miteinander. Beides hat nebeneinander Platz und geht bisweilen auch ineinander auf – zum Beispiel, wenn die lautere Jungfrau das unschuldige Einhorn in den Tod schickt, sagt Julia Weitbrecht: «In der mittelalterlichen Dichtung und in der Kunst werden weltliche Themen religiös ausgedeutet und vice versa. Da gibt es eine grosse Durchlässigkeit». Wie etwa in der mittelalterlichen Mystik, wo die Erotik durchaus ihren Platz hat.
Das Duo «Die Dame mit dem Einhorn» wird zum mittelalterlichen Hit. Gezeichnet, gemalt, gestickt. In Büchern, auf Bildern und als Tapisserien an Wänden. Die religiöse Bedeutung ist folgende: Der Einhornhupf in den Jungfrauenschoss symbolisiert die unbefleckte Empfängnis. Ein äusserst abstrakter Vorgang wird durch dieses Bild konkret. Das Einhorn steht für Christus und stirbt getäuscht und überlistet wie dieser den Opfertod.
Aber eben, der Zugriff mittels Jungfrau ist auch zünftig erotisch aufgeladen. Das ist der andere Film. Da ist Sex im Spiel. Da geht’s um Vereinigung und Erfüllung. Da tänzelt schon mal eine nackte Jungfrau auf ein freudig lächelndes Einhorn zu.
Der Plot ist eine Liebesjagd. Das Einhorn steht für den Mann. Und damit wäre denn auch das Geschlecht des Tiers geklärt. «In diesen symbolischen Darstellungen ist das Einhorn sehr stark gegendert. Das Einhorn ist der liebende oder begehrte Mann», so Weitbrecht. Es ist wild und muss gezähmt werden. Seine Affekte und sein Begehren werden gebändigt. Wir haben es hier also mit einer mittelalterlichen Version von Emotionsregulation zu tun.
Das heilende Wunderhorn
Was trotz Wandelbarkeit von Mythos und Monoceros über die Jahrhunderte konstant und verbindend bleibt, sind das Horn und die einmalige Wildheit des Einhorns – Finden, Fangen und Zähmen inklusive. Und der Glaube an die magische Wirkung des Horns.
Wenn das Einhorn sein Horn in ein vergiftetes Gewässer taucht, wird dieses rein. Wenn ein reicher Mann aus einem Gefäss trinkt, das aus Einhorn gefertigt ist, wird er immun gegen jegliches Gift und ist geschützt vor Epilepsie, Magenkrämpfen, Kopfschmerzen oder Würmern.
Dieselbe Wirkung soll auch die Einnahme von geriebenem Einhorn haben. Hildegard von Bingen etwa schreibt im 12. Jahrhundert über die Horntherapie und deren Wirkung. Bis ins 17. Jahrhundert wird Einhornpulver in Apotheken zu horrenden Preisen verkauft.
Das Horn ist also auch aus praktischen Gründen sehr kostbar und dient dem Prestige jener, die es sich leisten können. Es wird gegen Gold aufgewogen und lagert in den Wunderkammern von Fürsten und in Kirchenschätzen. Der dänische König Frederik III. lässt sich in den 1660er-Jahren einen Thron aus Einhorn-Horn zimmern. Wohl unbequem, aber wertvoll.
Tierversuche entzaubern das Wundertier
Da hegen Gelehrte schon eine ganze Weile ihre Zweifel an der Wirkung und der Echtheit des Horns. Im 16. Jahrhundert greifen Mediziner zum Tierversuch. Sie verabreichen je zwei Katzen oder Küken Gift, zum Beispiel Strychnin. Die eine Katze erhält eine Dosis Einhorn-Horn – aufgelöst in Wein oder Wasser – die andere nicht. Das Ergebnis? Beide Katzen sterben. Beide Küken auch.
Medizinisch hat das Horn also keine Wirkung. Und es kommt noch schlimmer: Im 17. Jahrhundert stellt die Gelehrtenfamilie Bartholin an der Universität Kopenhagen fest: Der Stoff stammt gar nicht vom Einhorn, sondern vom Narwal. Das Horn ist kein Horn. Das Horn ist ein Zahn. Ein Narwalzahn.
Eine bittere Erkenntnis. «Jetzt musste man sich fragen: Was ist denn nun mit dem Einhorn? Wo man es doch aus den Lehrbüchern so gut kennt», sagt Julia Weitbrecht.
Das Einhorn wird abgeschafft
Dem Einhorn geht es zunehmend schlechter. Es kommen zwar vereinzelt noch Berichte über die Sichtung des edlen Tiers nach Europa. In Afrika soll es gesichtet worden sein – ein pferdeartiges Tier mit einem drei Ellen langen Horn auf der Stirn. Aber an den Universitäten wird eifrig disputiert.
An den Universitäten wird eifrig disputiert. Es werden Abhandlungen geschrieben, in denen das Für und Wider abgewogen werden – mit klarer Schlagseite für das Wider. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts setzen Akademiker nicht mehr aufs Einhorn. Das Tier zieht ab Richtung Fabelwelt, von wo aus es die menschliche Fantasie weiterhin auf Trab hält. Bis heute.
Schokolade statt Einhornpulver
Das edelste unter den Fabeltieren wird zum kommerziellen Erfolg. Wir schlucken zwar kein Einhornpulver mehr, aber trinken Unicorn-Frappuccino, essen süsse Einhorn-Popel, knabbern Einhorn-Maisflips mit Ketchup, beissen in rosa-weisse Einhorn-Schokolade – oder versuchen es wenigstens.
Wie Julia Weitbrecht vor einigen Jahren: «Rittersport hatte eine Einhorn-Schokolade aufgelegt und ich dachte, gehst du mal in den Shop und kaufst dir eine. Etwa 250 andere Menschen hatten aber offensichtlich dieselbe Idee und trugen die Schokolade schachtelweise raus.»
Weitbrecht ging leer aus. Innerhalb von anderthalb Stunden war die Edition ausverkauft und die Homepage der besagten Schokoladenfirma längst zusammengebrochen.
Heute wird die fossile Schokolade auf Online-Plattformen versteigert und fast schon wie früher das Einhorn-Horn gegen Gold aufgewogen.