Amed Sherwan sitzt in der Wohnung einer Freundin in Berlin-Neukölln und dreht sich eine Zigarette. Am Abend zuvor hat er in einer Kneipe mit deutschen Freunden und etlichen Runden Wodka seinen 19. Geburtstag gefeiert.
Später will der Kurde aus dem Nordirak mit dem Bus zurück nach Flensburg fahren, wo er als anerkannter Flüchtling lebt. Er zeigt auf sein T-Shirt, auf das er den Satz «Thank Allah, I am an Atheist» – «Danke Allah, dass ich Atheist bin» – hat drucken lassen.
Auf seiner Facebookseite hat er ein Foto von sich in dem T-Shirt gepostet – und einen Shitstorm geerntet: «Vor allem Deutsche schrieben, ich solle damit aufhören. Das sei eine Provokation.»
Sie nennt sich eine Abtrünnige
«Religionsfreiheit heisst nicht nur, ich bin frei, eine Religion auszuüben», sagt in einem Café in Hamburg eine Frau, Ende 40, eine Schirmmütze auf dem kurzen Haar. «Sondern es heisst auch, dass ich das Recht habe, mich von einer Religion zu befreien. Das verstehen viele nicht.»
Die gebürtige Algerierin lebt seit 20 Jahren in Deutschland. Auf Youtube und Facebook nennt sie sich Nariman – Nariman Al Moulhida. Nariman, die Abtrünnige. Islam, Islamismus und politischer Islam sind für sie dasselbe.
Gottes Strafe verhängen manchmal Richter
Für Menschen wie sie sieht der Koran das Höllenfeuer vor. In Sure 16 heisst es: «Wer nicht mehr an Gott glaubt, nachdem er gläubig war, über den kommt Gottes Zorn. Und den erwartet harte Strafe.»
Im Iran wartet zurzeit der 21-jährige Sina Dehghan auf seine Hinrichtung, weil er sich auf Facebook als Atheist bezeichnet hat. Eine solche Ahndung im Diesseits lässt sich aus dem Koran nicht ableiten.
Tatsächlich seien Abweichler über Jahrhunderte geduldet worden, sagt der Islam-Experte Reinhard Schulze. «Im Unterschied dazu herrscht nun eine ‹Kultur der Eindeutigkeit›: Demnach verraten alle, die sich vom Islam abwenden, die muslimische Gemeinde an den ungläubigen Westen.»
Bei der Polizei angezeigt
Dennoch kehren immer mehr Menschen, die als Muslim oder Muslimin geboren wurden, dem Islam den Rücken. Millionen sollen es laut Nariman bereits sein. «Meine Familie ist nie sehr religiös gewesen», erzählt sie. «Deswegen hatte ich die Chance, den Koran kritisch zu lesen.»
Amed Sherwan hingegen ging als Kind mit seinem Vater und Onkel täglich in die Moschee. «Früh morgens, spät nachts. Ich war richtig Muslim.» Bis er mit 14 Jahren auf eine islamkritische Facebookseite gestossen sei. Was er las, überzeugte ihn.
Als er seinem Vater offenbarte, dass er nicht mehr an Allah glauben könne, reagierte der statt mit Verständnis mit Schlägen. Schliesslich zeigte er seinen Sohn bei der Polizei an.
Elektroschocks und Morddrohung
Von den Elektroschocks, die er im irakischen Gefängnis erhielt, schreibt Amed, inzwischen 18 Jahre alt, im März 2017 im Migrantenmagazin «Moin Flensburg».
Zu der Zeit lebt er bereits seit drei Jahren in der norddeutschen Kleinstadt und arbeitet bei der Flüchtlingshilfe ehrenamtlich als Dolmetscher. «Atheismus als Fluchtgrund» nennt er seinen Artikel.
Als er danach wieder zur Flüchtlingshilfe geht, habe ein arabischer Mitarbeiter ihn als «Ungläubigen» beschimpft. Und gedroht: «Ich schneide dir den Kopf ab und nehme ihn mit nach Jemen!»
Die meisten Muslime sind nicht organisiert
Mina Ahadi, die Vorsitzende des Zentralrats der Ex-Muslime in Deutschland , kennt viele ähnliche Geschichten. Ehemalige Muslime, die nicht mehr dem Islam angehörten, würden auch in Deutschland von strenggläubigen Muslimen zunehmend angefeindet: «Und die deutsche Regierung leistet durch ihre Politik der Radikalisierung Vorschub.»
Die gebürtige Iranerin hat dabei insbesondere den Zentralrat der Muslime im Blick. Dessen Mitgliedsverein «Islamische Gemeinschaft in Deutschland» gilt dem deutschen Verfassungsschutz als Ableger der Muslimbruderschaft.
Und der türkische Islamverband DITIB, der mit 900 Moschee-Gemeinden grösste Verband in Deutschland, hat im Auftrag der Erdogan-Regierung türkischstämmige Menschen bespitzelt.
Trotzdem sassen diese Verbände auch bei der Deutschen Islamkonferenz 2017 wieder mit Ministern der Bundesregierung an einem Tisch – als Vertreter der offiziell vier Millionen Muslime im Land. Eine Studie besagt dagegen, dass 85 bis 90 Prozent der Muslime in Deutschland weder organisiert seien, noch in die Moschee gingen.
Hoffnung auf Wandel
Im November beging der Zentralrat der Ex-Muslime in Deutschland sein zehnjähriges Bestehen. Weltweit gibt es mittlerweile mehr als ein Dutzend Ableger, unter anderem in Frankreich, Marokko, den USA und Sri Lanka.
Gibt man den Suchbegriff «Ex-Muslim» bei Google ein, stösst man auf beinahe drei Millionen Treffer. «Das Internet ist für den Islam, was einst Druckmedien für das Christentum waren», meint Maryam Namazie, Gründerin des Zentralrats der Ex-Muslime in Grossbritannien.
Der Islam-Experte Reinhard Schulze hält auch das islamische Recht für wandelbar: «Der Konflikt zur westlichen Rechtsauffassung ist erst mit dem 19. Jahrhundert entstanden. Man kann das islamische Recht auch so interpretieren, dass es nicht mehr Staatsrecht ist – und keine Hoheit mehr hat im Strafrecht.»
Bewusst in die Offensive gehen
Dann müssten Ex-Muslime keine offizielle Todesstrafe mehr fürchten. Vor Übergriffen Einzelner wären sie damit nicht geschützt. Die meisten Ex-Muslime wollen daher anonym bleiben. Oder melden sich, wie Nariman, nur mit Pseudonym zu Wort.
Amed Sherwan geht ganz bewusst in die Offensive. Er zeigte den Mitarbeiter der Flensburger Flüchtlingshilfe wegen einer Todesdrohung bei der Polizei an. Doch das Überwachungsvideo, auf das der junge Kurde sich berief, hat keinen Ton. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen wieder ein.
Seitdem outet Amed sich nicht nur auf Facebook als Atheist. Er tritt auch bei islamkritischen Veranstaltungen als Redner auf. Seine Hoffnung: «Eines Tages muss es einfach ganz normal sein, wenn sich jemand Ex-Muslim nennt.»