«Die Lust am Autoritären wächst.» So lautet eine der Diagnosen, die Karl-Heinz Ott in «Verfluchte Neuzeit» stellt. Der Untertitel seines essayistischen Buchs verspricht nichts weniger als eine «Geschichte des reaktionären Denkens».
Die liberale Demokratie stehe massiv unter Druck, schreibt der deutsche Schriftsteller. Zum einen aufgrund der Erfolge des rechten und linken Populismus in vielen westlichen Ländern. Zum anderen aufgrund des Zulaufs, den ultrakonservative Kräfte in Polen, Ungarn und anderswo für sich verbuchen. Jüngst kam Putins Angriffskrieg hinzu, der jegliches Recht verspottet.
Sie sägen an den Grundpfeilern
Darin manifestiere sich eine grundsätzliche Ablehnung der liberalen Demokratie und ihrer Werte. Und damit fundamentaler Errungenschaften der westlichen Welt.
Dazu gehört die Vorstellung, dass der Mensch ein freies Individuum ist. Oder dass Gesellschaften demokratisch und nach pluralistischen Prinzipen verfasst sein sollten.
Putin, Trump, Le Pen oder Orban würden diese Grundwerte verachten, erklärt Ott im Gespräch. Es gehe ihnen darum, «die Demokratie zu schleifen». Dies, weil sie in ihr lediglich ein System erkennen, «mit dem linksliberale Eliten die Menschen bevormunden». Und das zuletzt zu Chaos, Sittenzerfall und Sinnlosigkeit führe.
Die göttliche Ordnung
Diese Haltung «rüttelt an den Grundlagen der Neuzeit», schreibt Ott. Und zwar deshalb, weil sich mit der historischen Epoche der Neuzeit ab etwa 1500 im Westen jener fundamentale Wandel im Menschen- und Weltbild vollzog, der die Entwicklung zu unserer modernen Welt anstiess.
Als Wegbereiter nennt der Autor Denker wie etwa den Reformator Martin Luther oder den französischen Philosophen René Descartes. Sie sagten der aus dem Mittelalter stammenden vermeintlichen «ewigen und göttlichen» Ordnung den Kampf an.
Mut zum Selberdenken
Stattdessen erkannten sie im Menschen ein freies Wesen, das nicht der Kirche, sondern dem eigenen Gewissen folgen darf. Das der eigenen Vernunft vertraut und die staatliche über die kirchliche Gewalt stellt.
Bereits damals gab es massive Kritik an dem neuen freiheitlichen Denken, das angeblich «die Weichen falsch stellte». Diese Ablehnung setze sich bis heute fort. Sie findet sich ebenso bei den Spitzen populistischer Bewegungen in Europa wie «in Thinktanks mit potenten Geldgebern» in den USA.
Ott zeigt, dass sich heutige Reaktionäre auf eine ganze Reihe von Vordenkern stützen können: etwa auf Carl Schmitt, den deutschen Staatsrechtler und Kronjuristen der Nazis. Oder auf den 1973 verstorbenen Rechtsintellektuellen Leo Strauss in den USA, dessen scharf liberalismuskritischer Denkschule – den sogenannten «Straussianern» – grosser Einfluss auf das Weisse Haus nachgesagt wird.
«Schmitt und Strauss lehren, wie man gegen das demokratische Chaos vorgeht», schreibt Ott, «mit eisernen Prinzipien, die nie zur Disposition stehen dürfen.» Gesellschaften bräuchten starke Autoritäten, die für Ordnung sorgen, so die These der reaktionären Denker.
Kein Patentrezept
Otts gut lesbares Buch öffnet nicht nur den Blick für geistesgeschichtliche Zusammenhänge, es beunruhigt auch. Patentrezepte, wie sich die liberale Demokratie schützen lässt, bietet es allerdings keine.
«Vielleicht fängt es im eigenen Dorf an», erklärt der Autor im Gespräch, «dass man in den Gemeinderat geht und sich ums Ganze sorgt. Oder dass man Meinungen anderer nicht einfach stehen lässt, sondern sie ernst nimmt, indem man mit ihnen streitet.»