Ob Klimapolitik, Bildung oder Rentensysteme: Die ältere Generation macht aktuell die Regeln, von denen die Jüngeren weitaus stärker betroffen sein werden.
Sollten Jugendliche früher Zugang zur Wahlurne erhalten? Unbedingt, sagt Philosoph Benjamin Kiesewetter und fordert: Bereits Kinder sollten mitbestimmen können.
SRF: In vielen Ländern und Schweizer Kantonen wird über eine Senkung des Wahlrechtsalters auf 16 Jahre diskutiert. Das ist Ihnen nicht genug. Was schlagen Sie stattdessen vor?
Benjamin Kiesewetter: Artikel 21-1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte besagt: «Jeder hat das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken.» Grundlegende Rechte dieser Art dürfen wir Menschen nur in Einzelfällen und nur aus zwingenden Gründen vorenthalten.
Deshalb bin ich der Auffassung, dass sich eine pauschale Altersgrenze beim Wahlrecht nicht rechtfertigen lässt. Stattdessen schlage ich vor, dass Menschen unabhängig von ihrem Alter an der Wahl teilnehmen dürfen, sobald sie ihr Interesse selbstständig bei einer entsprechenden Behörde bekunden.
Interesse ist nicht gleich Sachverstand. Fällen Kinder nicht Entscheidungen, deren Folgen sie nicht absehen können?
Man muss in einer Demokratie immer in Kauf nehmen, dass nicht alle Wähler weitsichtige Entscheidungen treffen, das gilt für Kinder genauso wie für Erwachsene. Und niemand wird behaupten, dass politische Urteilsfähigkeit strikt mit einem bestimmten Lebensalter korreliert.
Man muss in einer Demokratie in Kauf nehmen, dass nicht alle Wähler weitsichtige Entscheidungen treffen.
Man darf aber Menschen nicht ein Grundrecht verwehren, weil sie einer Bevölkerungsgruppe angehören, in der eine für relevant gehaltene Fähigkeit durchschnittlich weniger ausgebildet ist. Wer meint, dass das Wahlrecht bestimmte Fähigkeiten voraussetzt, der sollte fairerweise für einen Fähigkeitstest plädieren, der unabhängig vom Alter die relevanten Fähigkeiten überprüft.
Es gäbe auch die Möglichkeit, Eltern das Wahlrecht ihrer Kinder zu übertragen, bis sie volljährig sind. Dann hätten nachfolgende Generationen in Abstimmungen und bei Wahlen mehr Gewicht. Was halten Sie von diesem «Stellvertretermodell»?
Es verwehrt Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, ihr Recht auf politische Mitbestimmung selbst auszuüben, wenn sie dies möchten. Das könnte im Extremfall zur Folge haben, dass die Stimme einer minderjährigen Klimaaktivistin gegen ihren Willen von einem Lobbyisten der Kohleindustrie ausgeübt wird.
Eine pauschale Altersgrenze beim Wahlrecht lässt sich nicht rechtfertigen.
Ich plädiere deshalb für ein Kombinationsmodell: Eltern üben das Wahlrecht treuhänderisch für ihr Kind aus, aber nur bis zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind sein Interesse an der selbständigen Ausübung bekundet.
So wird niemandem das Mitbestimmungsrecht vorenthalten und gleichzeitig werden auch die Stimmen derjenigen Kinder berücksichtigt, die nicht wählen können oder wollen.
Die Eltern erhalten also für jedes Kind, das sie haben und das nicht selber wählen will, eine Stimme mehr. Diskriminiert dies nicht die Kinderlosen?
Es geht ja nicht darum, den Eltern eine zusätzliche Stimme zu geben, sondern darum, jedem Menschen eine Stimme zu geben und Eltern zu ermöglichen, ihre Kinder zu vertreten.
Jeder Mensch erhält ab Geburt ein Stimmrecht, und dieses Stimmrecht wird – wie andere Rechte auch – stellvertretend von den Eltern wahrgenommen, solange das Kind es nicht selbst wahrnehmen kann oder will.
Die Generation der heutigen Rentner hinterlässt den Jungen einen havarierten Planeten, marode Sozialwerke, mangelhafte Bildungssysteme. Wäre es nicht so weit gekommen, wenn Kinder hätten mitbestimmen können?
Das ist eine spekulative Frage, und mein menschenrechtliches Argument für die Abschaffung der Altersgrenze setzt nicht voraus, dass sie zu bejahen ist. Dennoch spricht einiges dafür, dass Nachhaltigkeit ein grösseres politisches Gewicht hätte, wenn die junge Generation auch ein Wählerpotenzial darstellen würde.
Denn unabhängig davon, wie Minderjährige oder ihre Stellvertreter tatsächlich wählen würden, scheint klar, dass Politiker deren Interessen stärker berücksichtigen müssten, um sie als Wähler nicht zu verprellen.
Das Gespräch führte Barbara Bleisch.