Auf diesen Moment hat die achtfache Grossmutter Rosmarie Wydler-Wälti lange gewartet: Am Mittwoch verhandelt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Klage der Klimaseniorinnen. Die Pensionierte ist Co-Präsidentin dieses Vereins, der in Strassburg die Schweiz anklagt.
Der schweizerische Staat unternähme zu wenig gegen den CO₂-Ausstoss und den Klimawandel, sagt die Gruppe. Damit gefährde er die Gesundheit und das Leben der Seniorinnen. Nicht nur die Schweiz, auch andere Mitgliedsländer des Europarats dürften das Urteil mit Spannung erwarten.
Der Doppelschock von 1986
Der Prozess ist ein Höhepunkt in Rosmarie Wydler-Wältis langjährigem politischen Engagement. Dieses begann 1986 mit einem doppelten Schock: Tschernobyl und dem Brand von Schweizerhalle.
«Wir hatten kleine Kinder im Haus und spürten, dass wir nicht raus dürfen, weil der Rasen vom Fallout-Regen kontaminiert war», erinnert sich die Seniorin. Das habe sie traumatisiert.
Im November sei dann der Gestank der Chemiefirma Sandoz von Schweizerhalle dazu gekommen: «Wir wussten nicht, ob Gift in der Luft ist, und konnten die Kinder nicht in die Schule oder den Kindergarten schicken.»
Damals sei ihr bewusst geworden, dass es in der vermeintlich heilen Schweiz plötzlich gefährlich werden könne, sagt sie: «Wir haben Ökogruppen gegründet und versucht, einander zu unterstützen. Wir haben uns gefragt: Wie können wir im Alltag erdverträglich leben?»
Also fuhr Wydler-Wälti trotz vier kleiner Kinder ohne Auto in die Ferien und marschierte mit ihnen für den Frieden und gegen Atomkraftwerke. Auch wenn die Klimaseniorinnen heute ins europäische Ausland eingeladen werden, reisen sie mit Zug und Schiff, selbst bis nach Griechenland: «Fliegen ist für mich tabu», so die Seniorin.
Mehrfach abgeblitzt
Dem Auftritt in Strassburg ging ein hürdenreicher Weg durch juristische Instanzen voraus. Dreimal sind die Klimaseniorinnen abgeblitzt, erst beim Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK), dann vor dem Bundesverwaltungsgericht und 2020 schliesslich vor dem Bundesgericht.
Es hiess, die Frauen seien nicht klageberechtigt und könnten keine spezifische Betroffenheit geltend machen. Ausserdem sei das Recht auf Gesundheit und Leben nicht ausreichend tangiert.
Aufgeben war für Wylder-Wälti dennoch keine Option: «Dieser Frust, nicht ernst genommen zu werden, notabene als ältere Frau, hat mich nur noch mehr angefeuert.»
Die «Hexen» werden gehört
Also zogen die Klimaseniorinnen die Klage – unterstützt von Greenpeace – weiter nach Strassburg. Heftige Reaktionen blieben nicht aus. So erhielt die Seniorin mehrere anonyme Mails.
«Die einen hatten geschrieben: ‹Euch hätte man früher auf den Scheiterhaufen gebracht.›» Für die Seniorin ist das ein Kompliment. «Die Hexen waren starke Frauen, die man gefürchtet hat. Darum hat man sie getötet. Heute kann man das nicht mehr.»
Die Beschwerde der Klimaseniorinnen ist nur eine von mehreren Klimaklagen, die in Strassburg demnächst verhandelt werden. Ganz allein ist die Gruppe mit ihrem Vorhaben also nicht.
Rosmarie Wydler-Wälti stimmt das zuversichtlich: «Wir werden international wahrgenommen. Auch in anderen Kontinenten interessiert man sich für uns, weil das der erste Fall ist, in dem wir als ältere Frauen im Zusammenhang mit den Folgen des Klimawandels eine besondere Betroffenheit geltend machen können.»