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Eine Frau hält zwei Orangen in den Händen.
Legende: Sex ist kein Tabu mehr. Macht das Frauen selbstbestimmter als früher? SRF/Danielle Liniger

Weibliche Sexualität Das Korsett ist weg – Die Tabus bleiben

Wie steht es 50 Jahre nach der sexuellen Revolution um die Selbstbestimmung junger Frauen? Eine Bestandsaufnahme.

Lesezeit: 20 Minuten

Wir sitzen noch keine fünf Minuten – und schon wird's laut. Im Wohnzimmer einer Zürcher WG sitzen zwei Journalistinnen, drei junge Frauen und ein Mann. Kaffee und Kuchen stehen auf dem Tisch und ein grosses Thema im Raum: die weibliche Sexualität. Let’s talk about sex.

Sie will, was er will

Let’s talk about sex: Dieser Satz ist auch dem kürzlich erschienenen Buch «Das beherrschte Geschlecht» der Hamburger Psychologin und Familientherapeutin Sandra Konrad vorangestellt. Darin stellt sie dem Zustand der heterosexuellen weiblichen Sexualität ein bitteres Zeugnis aus.

Die sexuelle Selbstbestimmung der Frau sei eine Fata Morgana. Gleichberechtigung im Schlafzimmer? Ein moderner Mythos. Die sexuelle Freiheit der Frau bestehe darin, das zu wollen, was der Mann will – zu diesen Schlüssen kommt Sandra Konrad, die mit rund 70 Frauen über deren Sexleben gesprochen hat.

Ihre Thesen sind spitz formuliert, provokant und schlagen noch dazu mitten in der #metoo-Debatte auf. Entsprechend heftige Reaktionen lösen sie aus: In den Kommentarspalten unter einem Interview geben ihr die einen «von A bis Z Recht», während auf der Gegenseite «Pseudofeminismus» und «Geflenne» noch zu den harmloseren Formulierungen gehören.

«Frauen stecken eher zurück»

Erstaunlich gelassen reagieren dagegen die vier Menschen Mitte 20, die wir eingeladen haben, um über das Thema zu sprechen: André, Carmen, Claire und Muriel.

Es diskutieren:

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  • André (24) ist angehender Geschichts- und Geografielehrer. Für den Verein «Achtung Liebe» besucht er Schulklassen und spricht mit Jugendlichen über Sexualität.
  • Carmen (27) leitet die Kommunikation in einem KMU, ist Musikerin und ehemalige Mediensprecherin von aktivistin.ch .
  • Claire (27) hat in Zürich und Berlin Philosophie, Literatur und Gender Studies studiert. Zur Zeit schreibt sie an ihrer Doktorarbeit.
  • Muriel (22) studiert Medien und Kommunikation und macht ein Praktikum als politische Campaignerin.

Was sie verbindet: Sie gehören der Generation an, die Jahrzehnte nach dem Beginn der sexuellen Revolution geboren ist. Und sie beschäftigen sich mit dem Thema weiblicher Selbstbestimmung – aktivistisch, akademisch, politisch oder aufklärerisch.

Fünf junge Frauen und ein Mann sitzen auf Stühlen und einem Sofa.
Legende: In einer Zürcher WG haben sechs Personen nur ein Thema: weibliche Sexualität. SRF/Danielle Liniger

SRF: Steht es so schlecht um eure sexuelle Selbstbestimmung, wie Sandra Konrad es beschreibt?

Claire: Ich frage mich: Was heisst selbstbestimmt? Man sollte Frauen nicht vorschnell Selbstbestimmung absprechen. Aber ich glaube, Frauen kommen den Wünschen des Gegenübers eher entgegen und stecken zurück. Das tun natürlich auch viele Männer – aber als Frau wirst du mehr darauf konditioniert.

Viele Männer und Frauen reproduzieren stereotype Bilder.
Autor: André Student auf Lehramt

Carmen: Das gilt ja nicht nur für die Sexualität.

Claire: Aber es wirkt bis in die Sexualität hinein.

André: Es gibt sicher viel Sex, der nicht allzu gut ist, man «erledigt» ihn halt. Das ist schade, aber gilt genauso für Männer. Wenn du als Mann beim Sex etwa nicht kommst, bist du ein Schlappschwanz. Viele Männer und Frauen reproduzieren stereotype Bilder, ohne erkennbaren Grund.

Carmen: Eine Freundin von mir dachte lange, ihre Rolle beim Sex sei es, dass es ihrem Partner dabei gut gehe. Dass das gegenseitig sein kann, wurde ihr erst später klar.

Weshalb wir Ja sagen müssen

Sandra Konrad sitzt in einem Ledersessel.
Legende: Wir müssen über weibliche Sexualität reden, meint die Psychologin Sandra Konrad. Kirsten Nijhof

Klar ist der Fall für die Buchautorin Sandra Konrad: Was wir privat leben, wird durch die Gesellschaft bestimmt. Und die Gesellschaft wird durch den männlichen Blick geprägt. Die Frauen hätten sich in den letzten Jahrzehnten nicht sexuell emanzipiert, sondern ihr Sexleben bloss dem des Mannes angeglichen, so die Autorin.

Buchhinweis

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Sandra Konrad: «Das beherrschte Geschlecht. Warum sie will, was er will», Piper Verlag, 2017.

Konrad spricht mit unaufgeregter Stimme, aber ihre Sätze sitzen. «Die neue Frau tritt heute wie der Mann auf», sagt die Psychologin im Gespräch: «Sie soll Sex und Gefühle fein säuberlich trennen können.» Das heutige Ideal sei nicht mehr die passive, zurückhaltende Frau, sondern die sexuell aktive Frau: unabhängig, aufgeschlossen und bereit, alles mitzumachen.

Terror des Ja

Mit Selbstbestimmung habe das wenig zu tun, erklärt Konrad. Vielmehr unterliege gerade das Sexleben junger Frauen einem «Terror des Ja». «Das grosse Tabu der Gegenwart ist nicht, als Frau die eigene Sexualität auszuleben. Sondern Nein zu sagen und Grenzen zu setzen.»

Eigene Bedürfnisse würden dabei oft missachtet. Gerade viele der jungen Frauen, mit denen sie sprach, erzählten ihr von sexuellen Praktiken, die ihnen widerstrebten und auf die sie sich doch einliessen. Nicht, um die eigene Lust daran auszuloten. Sondern, um die Lust des Partners zu befriedigen und gut bewertet zu werden.

«Sexy zu sein, ist wichtiger, als lustvoll zu sein», resümiert Konrad.

«Es braucht viel Selbstvertrauen»

Sie habe kein Problem, Grenzen zu setzen, sagt Carmen beim Gespräch in Zürich. Ein anderes Bild sehe sie, wenn sie verfolge, wie über «Ein Nein ist ein Nein» diskutiert werde.

Muriel.
Legende: Frauen hätten eine klare Rolle, sagt die 22-jährige Studentin Muriel: «Sie sind für andere da.» SRF/Danielle Liniger

SRF: Fällt es in intimen Beziehungen so schwer, Nein zu sagen?

André: Ein wichtiger Punkt ist Selbstvertrauen. Ich spreche für den Verein Achtung Liebe mit Schulklassen – und habe den Eindruck, dass junge Frauen oft nicht auf ihr Nein beharren können. Bei Jungs ist das ähnlich. Aber für Frauen kann es viel traumatischer enden, wenn sie nicht kommunizieren können, dass sie etwas nicht möchten.

Muriel: Frauen werden viel stärker in die Rolle gepresst, dass sie leiden müssen. Ihnen wird vermittelt: «Du bist da, damit es anderen Menschen gut geht.» Übertragen auf Sex heisst das, wir verstehen später als ein Mann, wenn uns eine Situation nicht gefällt.

Im Bett hast du keinen intellektuellen Vorbau.
Autor: Carmen Kommunikationsleiterin

Claire: Ich selbst hatte nie Probleme zu sagen: Das ist ok, das nicht. Lebe ich da eine total exotische Sexualität?

Carmen: Wenn wir so sprechen, wird alles schnell verkopft – im Bett hast du diesen intellektuellen Vorbau nicht. Du verlässt dich auf deine Empfindungen. Aber dieses Vertrauen muss man lernen.

Muriel: Dir kann ja auch etwas Lust bereiten, wovon du körperlich nicht profitierst. Du hast ja nicht alleine Sex – sondern mit einer anderen Person.

André: Ich kann mich selbst nicht entspannen, wenn sich meine Partnerin nicht entspannt. Ich probiere, auf das Gegenüber einzugehen.

Muriel (lachend): Oder du machst deiner Partnerin damit Druck, besser zu schauspielern.

Carmen: Oh ja – ich glaube, jede Frau hat schon Orgasmen vorgespielt.

André: Macht euch nichts vor: Männer auch. Mit Kondom ist das sogar ziemlich einfach. Du willst ja auch nicht als Idiot dastehen, der nicht kommt.

Claire: Im Ernst? Ich sehe das anders. Wenn es nicht passiert, dann passiert es nicht. Irgendwie traurig, dass das so viele vorspielen.

André: Es muss nicht traurig sein. Wenn in der Partnerschaft klar ist, dass jemand sich den Kopf über nicht erfolgte Orgasmen zerbricht, kann es Stress reduzieren, einen Orgasmus vorzuspielen. Wenn man dauerhaft keine Lust empfindet, ist das problematisch. Aber wenn man halt einfach nicht kommen kann – tja.

Wenn wir über Sex sprechen, gibt es massenhaft Tabus.
Autor: Muriel Studentin und Campaignerin

Claire: Das Erschreckende ist doch, dass man nicht darüber sprechen kann!

Carmen: Aber dafür fehlen oft die Begriffe. Wie redet man denn überhaupt darüber?

Muriel: Wenn wir über Sex sprechen, gibt es massenhaft Tabus. Das beginnt schon beim weiblichen Körper. Es gibt viel mehr Wörter für Penis als für Vagina.

Carmen: Und viele Personen in meinem Umfeld kennen den Unterschied zwischen Vulva und Vagina nicht.

Claire: Auch wenn die Worte da sind, es weiss auch nicht jede gleich: Das macht mir Lust, das empfinde ich als schön. Damit sind wir wieder beim Vertrauen. Um darüber zu sprechen, braucht es Vertrauen in das Gegenüber. Und in sich selbst.

Viel gefordert, wenig erreicht

Frei über Sexualität zu sprechen – 2018 für vier junge Menschen kein Problem. Noch vor 50 Jahren war das keine Selbstverständlichkeit.

Zürcher Frauen demonstrieren 1975 für das Recht auf Abtreibung.
Legende: Auf die Barrikaden gegen die verkrustete Sexualmoral: eine Zürcher Frauendemo 1975. Keystone

Die 68er fegten als frischer Wind durch die Schweizer Schlafzimmer. Dass sich Frauen von der bürgerlichen Sexualmoral befreien, war dabei der Dreh- und Angelpunkt der Frauenbewegung der 1960er- und 1970er-Jahre, sagt Andrea Maihofer, Professorin für Gender Studies an der Universität Basel.

BHs wurden abgebrannt und das moralisch enge Korsett abgestreift. Frauen, die ihre Sexualität autonom lebten, wurden öffentlich sichtbar. Andrea Maihofer war damals ein Teenager und erinnert sich: «Man stellte sich vor, dass eine freie Gesellschaft auch eine sexuell befreite sein muss.»

Welche Freiheiten hat die sexuelle Revolution für das 21. Jahrhundert tatsächlich gebracht? «Es ist erstaunlich, wie viel sich nur minimal verändert hat», sagt die Geschlechterforscherin Andrea Maihofer.

Formal sei zwar viel passiert, in den Köpfen aber wenig. Was Sexualität von Frau und Mann betrifft, würden sich in der Öffentlichkeit – in den Medien, im Kino oder in der Werbung – herkömmliche Rollenbilder und Mythen hartnäckig halten: «Sexualität hat sich eher kommerzialisiert als befreit.»

Wahrnehmung der Geschlechter

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Laut einer aktuellen Schweizer Studie unterscheiden sich Männer und Frauen nicht stark, wenn es darum geht, mit wie vielen Partnern und Partnerinnen sie durchschnittlich schlafen in ihrem Leben (bei Frauen sind es 6, bei Männern 7) und welche Bedeutung sie Sex geben (68 Prozent der Frauen und 84 Prozent der Männer ist er wichtig bis sehr wichtig). Trotzdem werden Frauen als das sexuell weniger aktive Geschlecht wahrgenommen – und zwar sowohl von Männern als Frauen.

Über das Ziel hinausgeschossen

Die Psychologin Sandra Konrad geht noch einen Schritt weiter: «Die sexuelle Revolution brachte nicht nur neue Freiheiten, sondern auch neue Normen und Zwänge.»

Laut Konrad hat sie über ihr Ziel hinausgeschossen: Für viele Frauen habe sie zu einer Übersexualisierung geführt. Sex werde als eine Leistung betracht, der weibliche Körper als Ware.

«Sexuelle Freiheit ist für Frauen zu einem Image-Produkt geworden», sagt Konrad, «zu einem Statussymbol, das man stolz durch die Gegend trägt». Dabei werde Freiheit mit Selbstbestimmung verwechselt. Alles gelte als Ausdruck davon: Von leicht bekleideten Popstars bis zu Intimrasuren und dem Annehmen des Männernamens bei der Hochzeit. «Sogar Unterwerfung wird als höchster Gipfel der Emanzipation gefeiert.»

«Keine Frau gibt das gerne zu»

Eine harsche Analyse – die aber in der Zürcher Runde eher Schulterzucken auslöst als Empörung.

Ein junger Mann mit grauem Hemd sitzt vor einem Buchregal.
Legende: «Alle sind von Idealbildern beeinflusst», sagt der angehende Lehrer André (24). SRF/Danielle Liniger

SRF: Habt ihr den Eindruck, in einer übersexualisierten Gesellschaft zu leben?

Carmen: Ich komme aus der Werbebranche – in der Werbung sind Frauen nach wie vor Dekoration.

In der Werbung sind Frauen nach wie vor Dekoration.
Autor: Carmen Kommunikationsleiterin

André: Die Bilder sind bei beiden Geschlechtern sehr einfach. Kein Fettwanst wirbt für Armani-Unterwäsche. Eine ehemalige Freundin, die einen sehr schönen Körper hatte, erzählte mir, wie schlimm es für sie war, Fitnessmodells auf Instagram zu folgen: immer noch rundere Füdlis, noch schönere Brüste und flachere Bäuche. Jeder, der sagt, er sei von Idealbildern nicht beeinflusst worden, lügt. Ob du dir dessen bewusst bist, ist eigentlich egal.

Carmen: Ich würde gerne sagen können: Ich fühle mich total wohl in meinem Körper und Beauty-Standards sind mir vollkommen egal. Ist aber nicht so. Mein Partner kann mir 1000 Mal sagen, wie schön er mich findet – ich kann es nicht abstreifen.

Muriel: Das hört nie auf, weil wir in diese Standards hineingeboren werden. Aber wenn man sie sich bewusst macht, kommt man weiter.

Claire: Dass es Ideale gibt, die sich auf die eigene Intimsphäre auswirken: Keine Frau gibt das gerne zu. Weil es schambehaftet ist und wehtut. Gerade, wenn man sagt: Ich bin doch selbstbestimmt.

Viel Halbwissen über die weibliche Lust

Für den Biologen Daniel Haag-Wackernagel von der Universität Basel ist die Hauptursache für falsche Vorstellung vom sexuellen Erleben der Frau eine andere: mangelndes Wissen über das weibliche Erregungssystem.

Ein Kaktus und zwei Lippenstifte sind wie eine Gebärmutter angeordnet.
Legende: Die weibliche Anatomie sei vielen ein Rätsel, meint Daniel Haag-Wackernagel. SRF/Danielle Liniger

Ob Schulbuch, Fachliteratur oder anatomische Modelle: «Es gibt heute auf dem Markt keine Darstellung des weiblichen Erregungssystems, die korrekt ist.»

So fehle auch in vielen Lehrbüchern der letzten Jahre eine adäquate Abbildung der Klitoris, sagt der Evolutionsbiologe, der an einem Buch über weibliche Sexualität arbeitet.

Viele wüssten über das weibliche Erregungssystem nicht einmal, dass «es ungefähr gleich gross ist wie das des Mannes». Solches Wissen über den weiblichen Körper sei aber zentral, damit Frauen die Verantwortung für die eigene Lust übernehmen können.

Dass die Anatomie der Frau bis heute unvollständig dargestellt wird, hat historische Gründe. Bereits in der Antike wusste man sehr gut über die weibliche Sexualität Bescheid, sagt Haag-Wackernagel: «Aber Anfang des letzten Jahrhunderts hat sich die Vorstellung von Lust ausschliesslich auf den Mann konzentriert.»

Die weibliche Lust verschwand aus Lehrbüchern – und wurde pathologisiert. Selbstbefriedigung sei tödlich, Hysterie von der Gebärmutter verursacht: Was heute absurd klingt, waren anfangs des 20. Jahrhunderts gängige Annahmen.

Ebenso, dass ein «reifer» Orgasmus nur über die vaginale Penetration und nicht durch die Stimulation der Klitoris erreicht werden könne. Obwohl Umfragen zeigen, dass die meisten Frauen keinen vaginalen Orgasmus erleben, hält sich das Klischee bis heute.

Wissen über Sexualität

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Als Schweizer Jugendliche für eine Studie befragt wurden, ob sie wissen, an welchen Zyklustagen Frauen fruchtbar seien, antworteten drei Viertel mit Ja. Als man nachhakte, benannte allerdings nur die Hälfte davon sie richtig.

«Keinen blassen Schimmer!»

Die Vorstellung, dass eine Frau nur durch den Mann zum Höhepunkt komme: Genau aus diesem Grund herrsche auch so ein Hype um den G-Punkt, sagt Claire lachend.

Carmen.
Legende: Wissen über den Orgasmus? «Da ist noch Luft nach oben», sagt die 27-jährige Carmen. SRF/Danielle Liniger

SRF: Wie steht es mit dem Wissen um die weibliche Lust?

André: Viele Frauen haben überraschend wenig Ahnung von ihrem eigenen Körper. Dass etwa der Kitzler nur die Spitze des Eisbergs ist, dass die Klitoris ein Organ ist, das unter der Haut verläuft und die gesamte Vulva umfasst – davon haben viele Männer und Frauen keinen blassen Schimmer.

Weibliche Lust ist völlig unterthematisiert.
Autor: Claire Philosophie-Doktorandin

Carmen: Ich wusste solche Dinge lange auch nicht. Und ja, das ist fatal. Man hat das Gefühl, man weiss extrem viel, weil man so viele sexualisierte Bilder sieht. Aber was den weiblichen Orgasmus betrifft – da ist noch sehr viel Luft nach oben.

Claire: Wenn wir von Bildern sprechen: In den meisten Coming-of-Age-Filmen masturbieren Jungs. Es gibt aber nur wenige Szenen, wo Mädchen das tun. Weibliche Lust ist völlig unterthematisiert! Vor allem solche, die nicht schon immer auf jemanden ausgerichtet ist.

Carmen: Ich glaube, bei «Sex & the City» sah man zum ersten Mal eine Frau sich selbst befriedigen.

Muriel: Ich wurde sehr früh von meiner Mutter aufgeklärt und hatte daher auch in der Pubertät nie das Gefühl: So und so muss mein Körper sein, so und so muss ich in der Sexualität sein. Oder ich kannte das Gefühl, aber wusste: Es ist falsch.

Es ging in der Schule nie um Lust, immer um Risiken.
Autor: Carmen Kommunikationsleiterin

Carmen : Bei der Aufklärung in der Schule ging es immer nur um Schutz: vor Geschlechtskrankheiten, vor Schwangerschaft, vor Übergriffen. Mir wurde vermittelt, dass ich Nein sagen darf.

Aber was mir komplett gefehlt hat, ist, dass ich auch «Oh yes!» sagen darf. Es ging nie um Lust, immer um Risiken: Du bist schuld, wenn etwas passiert.

Claire: Es wurden in der Schule auch nie verschiedene Formen des Begehrens thematisiert. Sondern eine sehr genaue Vorstellung weitergegeben, was Sex ist und beinhalten muss, total heteronormativ. Und das hat mir noch länger im Kopf rumgespukt.

Carmen: Penetration gleich Sex – das ist noch immer die öffentliche Meinung.

Claire: Als Teenie kopierst du mit deinem ersten Freund oder Freundin doch einfach die Erwachsenen. Bevor der Prozess beginnt, dass man sich selbst fragt: Was finde ich schön? Was ist mein Wunsch?

André: Als Teenie siehst du alles, bis auf das, was Erwachsene im Schlafzimmer tun. Beim ersten Mal funktioniert das Nachspielen plötzlich nicht mehr: Du kennst Sex höchstens aus Filmen oder hast Pornos gesehen und denkst: So läuft’s.

Als ich 14 war, hat meine Mutter mal meinen Internetverlauf entdeckt. Sie sagte nur zwei Dinge: Nicht jeder Mann hat einen 20 Zentimeter langen Penis, und nicht jede Frau ist untenrum glatt rasiert.

Licht ins Dunkle bringen

Viel Halbwissen, viele Klischees: Ist weibliche Sexualität heute immer noch ein «dunkler Kontinent», wie der Psychoanalytiker Sigmund Freud sie nannte – eine gesellschaftliche Tabuzone, über deren Topografie wir wenig wissen und kaum zu sprechen wagen?

Ein Body aus hautfarbenem Stoff über dem zwei Blätter liegen.
Legende: Viele Mythen prägen das Bild weiblicher Lust – auch in der Gegenwart. SRF/Danielle Liniger

Es spricht einiges dafür, dass dieser Kontinent gerade neu vermessen wird. Durch Autorinnen, die unverkrampft über weibliche Lust schreiben, Netzaktivistinnen, die glatte Körperbilder kreativ zerpflücken oder Seiten wie OMGyes , die Frauen handfeste Anleitungen zum Orgasmus versprechen.

Selbst zu bestimmen, wie ihre Sexualität aussehen soll: Das scheint für viele keine «Fata Morgana» zu sein, sondern eine Vision, die geformt und gelebt werden kann.

Ein halbes Jahrhundert nach der sexuellen Revolution wird das Anliegen gleichberechtigter und freier Sexualität weitergetragen. Der Feminismus der Gegenwart findet nicht nur auf der Strasse, in Parlamenten oder akademischen Hinterzimmern statt, sondern auch im Netz – und damit global.

Wer «Feministin» hört, denkt heute nicht mehr unbedingt an das Klischee der prüden Männerhasserin – sondern vielleicht an Beyoncé.

Die Kehrseite der Medaille: die schiere Menge an sexuellen Grenzverletzungen und Übergriffen, die im Zug von #metoo öffentlich benannt werden. Sie zeigen ein anderes Bild. Noch immer scheint die Erfahrung geschlechtsspezifischer Ungleichheit zum Alltag unzähliger Frauen – und auch mancher Männer – zu gehören.

«In intimen Beziehungen mag es gleichberechtigte Sexualität geben», sagt Sandra Konrad. «In der Öffentlichkeit aber wird die Frau oft sexualisiert. Alltagssexismus ist heute noch weit verbreitet und sexualisierte Gewalt wird nach wie vor bagatellisiert.» Das zeige die #metoo-Debatte.

Sie gibt aber auch Anlass zu Hoffnung. Wenn es heute ein Tabu sei, Grenzen offen zu benennen, dann sei dieser Hashtag die stärkste Gegenthese. «Frauen merken: Was sie als normal empfunden haben, etwa ungefragt am Hintern angefasst zu werden, ist einfach falsch.»

Auch die Genderforscherin Andrea Maihofer findet die Debatte «extrem spannend»: «Weil sie wieder genau an den Punkten ansetzt, die schon vor 50 Jahren zentral waren. Eine Weile haben wir kaum über gleichberechtigte Sexualität gesprochen – heute wird das Thema wieder neu verhandelt. Das könnte ein Schritt zu mehr tatsächlicher Gleichberechtigung sein.»

Sie hofft, dass sich dadurch im Alltag von Frauen ein neues Selbstbewusstsein durchsetzt: «Dass sie sich nicht mehr in erster Linie über das Begehrtwerden definieren, sondern ihrem eigenen Begehren nachgehen.»

Dass Frauen wissen, was sie wollen und es aussprechen – das schwebt auch Sandra Konrad vor: «Sexuelle Selbstbestimmung wäre für mich dann erreicht, wenn Frauen ganz frei Ja, aber auch Nein sagen könnten. Und dafür weder beschämt noch bestraft werden.»

«Es muss nicht gleich sein, aber gerecht»

SRF: Was müsste in euren Augen passieren, damit wir uns sexuell selbstbestimmter fühlen?

André: Wir müssen darüber nachdenken, wie wir über Sexualität reden. Zum Beispiel über unsere Schimpfwörter: Männer sind bisher Schlappschwänze und haben zu wenig Sex, Frauen sind Schlampen und haben zu viel Sex. Wer schwach ist, ist eine Pussy.

Claire.
Legende: Was tun? «Wir müssen unsere Fantasie trainieren», sagt die 27-jährige Philosophin Claire. SRF/Danielle Liniger

Muriel: In meiner idealen Welt wäre es egal, was du zwischen den Beinen hast und ob du dich damit identifizierst. Ich glaube, der Weg dahin führt über absolute Gleichstellung.

In meiner idealen Welt wäre es egal, was du zwischen den Beinen hast.
Autor: Muriel Studentin und Campaignerin

Carmen: Für mich ist Gleichheit eine Utopie. Gerechtigkeit ist viel realistischer. Es muss nicht gleich sein – sondern gerecht.

Claire: Wir sollten die Fantasie trainieren – von klein an. Denn unsere Vorstellung von Begehren, Geschlecht und Sex ist viel zu eindimensional. Für alle sollte klar sein: Ich habe ein Anrecht auf eigene Wünsche und darf diese äussern. Ohne Ausnahme.

Sendung: SRF 1 Kulturplatz, 28. Februar 2018, 22:25 Uhr

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