Wolkenkratzer und Wellblechhütten, Kopftücher und Miniröcke, Hightech-Unternehmen und verqualmte Teestuben. Istanbul ist eine Stadt, in der es scheinbar alles gleichzeitig gibt. Zu sagen, wer oder was typisch für die 15-Millionen-Metropole ist, ist fast unmöglich. Und doch gibt es solche, die die Strassen und Gassen seit Jahrzehnten prägen: Die fliegenden Händler!
Als sich noch keiner für Hygiene interessierte
Der alte Ismet ist einer von ihnen. Jeden Tag steht er im Zentrum der Stadt, verkauft rufend und singend Poaca aus einem geflochtenen Korb. Poaca, das sind kleine, fettige Brötchen, die die Istanbuler gern zum Frühstück und zum Tee essen. Ismet backt sie selbst. Und das seit bald 50 Jahren.
Wer ihn besuchen möchte, muss sich bücken um die drei Stufen hinunter zusteigen, die in sein Reich führen. Fliessendes Wasser gibt es in dem kleinen Keller, den er als Bäckerei nutzt, nicht. Stattdessen bringt er jeden Morgen einen Kanister mit. Als Ismet sein Geschäft Anfang der 60er-Jahr begann, interessierte sich eben niemand für Hygienevorschriften. «Und da sind wir ja auch nicht krank geworden!» Ismet schnaubt, wenn er an die Männer vom Gesundheitsamt denkt, die ihm nun das Leben schwer machen.
Die Händler sollen verstummen
Die Türkei verändert sich. Nicht nur auf die Hygiene soll Ismet heute achten. Auch die Steuerbehörde zeigt plötzlich Interesse an seinem Geschäft. Und ein jüngst erlassenes Gesetz soll Marktverkäufern und fliegenden Händlern gar das Rufen verbieten. «Wir werden ein modernes Land», hat Ismets Enkelsohn seinem Grossvater neulich erklärt. Und dann stolz hinzugefügt: «So modern wie die Länder in der EU».
Doch Ismet interessiert sich nicht für die EU. Er merkt nur eins: Immer seltener ist der Korb an seinem Arm am Abend leer. Viele Istanbuler kaufen jetzt lieber abgepackte Brötchen aus dem Supermarkt statt seiner Poaca. Sie trinken auch lieber pasteurisierte und homogenisierte Milch aus Tetra-Paks als die der Milchverkäufer, die früher täglich mit ihren grossen Kannen durch die Strassen zogen. Und wenn sie einen frischen Sesamkringel essen wollen, dann gehen sie dafür in die Filialen der Fast Food-Restaurants, die den umherziehenden Sesamkringelverkäufern Konkurrenz machen.
Die Moderne vertreibt die Händler
«Die Strassenhändler gehen verloren», bestätigt Tuba Satana, Streetfood-Expertin aus Istanbul. Sie bietet Touren an, bei denen sich Besucher durch das Angebot der besten und ältesten Strassenverkäufern der Bosporusmetropole futtern dürfen. Egal ob mit Reis gefüllte Miesmuscheln, aufgewickelter Schafsdarm im Brötchen oder geröstete Maiskolben. Die 41-Jährige gönnt sich auch selbst fast täglich einen Snack auf die Hand. Doch das, so gibt sie zu, wird immer komplizierter. «Schauen Sie sich doch einfach um», sagt sie zur Erklärung.
Tatsächlich: Nicht zuletzt der türkische Bauboom macht den fliegenden Händlern zunehmend das Leben schwer. Neubauviertel und Schnellstrassen entstehen in rasendem Tempo dort, wo sie eben noch durch schmale Kopfsteinpflaster zogen. Und wer hört es schon noch im 20.Stock eines Wolkenkratzers, wenn unten der alte Ismet mit seinem Poaca-Korb vorbeikommt?
Sendung: Kultur kompakt, SRF 2 Kultur, 5.1.2014, 16.45 Uhr