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Gesellschaft & Religion Wenn die Kuppel-Mütter fehlen: Immer mehr Türken bleiben allein

Heiraten, das ist in der Türkei eine Familienangelegenheit. Besonders Mütter knüpfen über Jahre für ihre Kinder Bekanntschaften. Doch in der Anonymität der Grossstädte funktioniert das alte System nicht mehr, der türkische Heiratsmarkt steckt in der Krise.

Für Mert aus Istanbul war es allerhöchste Eisenbahn! Hätten er und die junge Frau neben ihm im letzten Jahr nicht Hals über Kopf geheiratet, hätten sie wohl beide als ewige Singles geendet. Mert ist 31, seine Frau Dilara 27. Beide haben sie damit das durchschnittliche Heiratsalter in der Türkei deutlich hinter sich gelassen: Das liegt für Männer bei gut 26, für Frauen bei 23 Jahren.

Kein Wunder also, dass Merts Familie bereits ordentlich Druck machte. «Meine Mutter hat mir am Ende fast täglich irgendwelche Mädchen aus unserer Bekanntschaft vorgeschlagen», erinnert sich der junge Steuerberater. «Wenn du mit 30 noch nicht verheiratet bist, dann bist du in unserer Gesellschaft ein Problemfall.»

Zertifizierte Ehepartner

Solche «Problemfälle» gibt es gerade in Grossstädten wie Istanbul und Ankara immer mehr, so zeigen es die Zahlen der türkischen Statistikbehörde. Während die Zahl der Scheidungen steigt, sinkt die Zahl der Hochzeiten. Eine besorgniserregende Entwicklung für die eher konservative türkische Gesellschaft – und auch für ihre Regierung, der selbst geschlechtergemischte Wohngemeinschaften ein Dorn im Auge sind. Von ausserehelichen Beziehungen ganz zu schweigen.

Mit staatlich finanzierten Ehevorbereitungskursen versucht das Familienministerium in Ankara den Trend zu kehren: Heiratswillige Paare lernen dort, wie man über Probleme spricht, wie man Beziehungen pflegt und sogar, welche Rolle die Sexualität in der Ehe spielt. Das Jawort geben sie sich dann als zertifizierte Ehepartner.

Es bleiben die Bürokollegen

Eine Hochzeitsgesellschaft in Istanbul.
Legende: Ein immer selteneres Bild: Hochzeitsgesellschaft in Istanbul. Reuters

Die Probleme derer, die gar keinen Partner finden, lassen sich jedoch nicht mit Kursen lösen. Merve, eine hübsche Architektin aus Istanbul, erklärt, warum sie auch mit 29 Jahren noch Single ist: Weil ihre Familie weit weg in einer Kleinstadt lebt, muss sie ihren Traumprinzen ganz alleine finden.

«Würde ich noch dort leben, hätte meine Mutter mir schon unzählige Kandidaten vorgestellt», ist sie sich sicher. «Und irgendwann wäre dann eben einer dabei gewesen.» In Istanbul jedoch, wo sie jeden Tag zehn Stunden arbeitet, trifft sie höchstens die Kollegen im Büro. Wenn da zufällig kein passender Anwärter auftaucht, wird es kompliziert.

Die Kuppel-Mutter fehlt

Audio
In der Türkei ist die Scheidungsrate um 40 Prozent gestiegen
aus Kultur kompakt vom 23.04.2014.
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 57 Sekunden.

Den Job der fehlenden Kuppel-Mütter wollen nun die zahlreichen Heiratsagenturen am Bosporus übernehmen. Ihre Mitarbeiter suchen heiratswillige Kandidaten, prüfen deren Familien auf Herz und Nieren und organisieren sogar Kaffeekränzchen zwischen den zukünftigen Schwiegereltern. «Die Ansprüche wachsen ständig», erklärt Nese Dokumaci von der «Liebes-Heirat-Agentur».

Dokumaci sagt: «Früher hat Ayşe zu ihrem Sohn gesagt: Fatma hat eine Tochter, die kann nähen, kochen und verlässt das Haus nicht. Die ist die Richtige für dich. Aber den Männern von heute ist das nicht mehr genug. Und den Frauen reicht es auch nicht mehr, wenn ein Mann nur nicht schlägt und nicht trinkt.»

Traditionen an das Grossstadtleben anpassen

Damit auch sonst möglich viel zusammenpasst, lässt Nese Dokumaci ihre Kandidaten zunächst seitenweise Formulare ausfüllen. Im Gegensatz zu Schweizer Dating-Angeboten, ist das Ziel dabei nicht nur ein netter Flirt, sondern einzig die Frage: Wann und wie soll geheiratet werden. Alter, Status der Familie und Nachwuchspläne spielen deswegen eine grosse Rolle.

Der Erfolg der Agenturen zeigt: Auch moderne Istanbuler wie die 29-jährige Merve wünschen sich heimlich eine Kuppel-Mutter herbei. «Verheiratet zu sein», gesteht sie, «das gibt einem hier immer noch einen gewissen Status. Wir wollen mit den alten Traditionen nicht brechen, wir müssen nur neue Wege finden, um sie an das Grossstadtleben anzupassen.»

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