Nicht nur in der Vogelwelt, auch unter Menschenkindern gab es sie schon immer: die «Nesthocker», die es sich noch mit Ende 20 im «Hotel Mama» gemütlich machen. Oder eben die «Nestflüchter», die schon mit 17, 18 nicht schnell genug das Weite suchen können.
Weder die einen noch die anderen machen sich in der Regel viele Gedanken darum, wie es ihren Eltern damit geht. Dabei bedeutet das Ende der Familienzeit für die Eltern einen gewaltigen Einschnitt im Leben, vielleicht sogar eine Krise, in jedem Fall aber eine Herausforderung.
Psychopharmaka gegen das «Empty Nest»-Syndrom
Erfunden wurde das «Empty Nest»-Syndrom in den USA der 1970er-Jahre. Es war die Pharmaindustrie, die in oft noch jungen Müttern einen Markt entdeckte.
Die Frauen standen nach intensiven Jahren mit Haushalt und Kindern ohne Berufsausbildung und Perspektiven da: Nicht selten stürzten sie in eine Identitätskrise, als die Kinder ausgezogen waren. Die «Lösung» des Problems wurde in Form von Psychopharmaka und Antidepressiva propagiert.
Natürlich stellt sich die gesellschaftliche Situation heute anders dar, wie Autorin Adelheid Müller-Lissner betont: Mütter wie Väter sind eher in der Situation, dass sie sich nach dem Auszug der Kinder verstärkt in Beruf und Karriere stürzen.
Was fehlt, wenn sie gegangen sind
«Mother's little helper», wie die Rolling Stones die Antidepressiva einst besangen, müssen nicht mehr eingesetzt werden, um einer Frau über die Leere nach dem scheinbaren Ende ihrer Aufgaben hinwegzuhelfen.
Aber auch eine neue gesellschaftliche Situation und Rollenverteilung dürfe, so Müller-Lissner, nicht darüber hinwegtäuschen: Mit dem Weggang der Jugend fehlt eine «besondere Farbe», der «Jungbrunnen der Auseinandersetzung».
Gemeinsam als Paar statt einsam als Eltern
Diese Unersetzlichkeit könne – und solle am besten – tatsächlich einfach betrauert werden. Die Schweizer Psychologin Verena Kast hat schon vor 30 Jahren den Mut zum Trauern bestärkt. Sie richtete sich damals allerdings vor allem an die Mütter. Inzwischen gilt dies vermehrt auch für die Väter, obwohl diese immer noch viel Beziehungsarbeit an die Mütter delegierten.
Generell aber hätten die Kinder der damaligen «Babyboomer» ein deutlich harmonischeres Verhältnis zu ihren Eltern als frühere Generationen, sagt Müller-Lissner. Das gaben 90 Prozent der Jugendlichen in einer Shell-Studie von 2015 an.
Die zurückbleibenden Eltern stehen vor der Herausforderung, sich und ihr gemeinsames Leben neu definieren zu müssen, wenn die Kinder ausziehen. Wer zu fokussiert gewesen sei auf die Kinder, könne es schwer haben, konstatiert Müller-Lissner.
Den Kindern die Selbstständigkeit gewähren
Wer während der Familienzeit ein Leben als Paar geführt hat, dem fällt die Trennung leichter. Müller-Lissner erzählt von einem Paar, das nach dem Weggang des jüngeren Kindes eine monatelange Reise antritt – wie sie dies schon vor den Kindern gemacht hatten.
Schliesslich wandeln sich auch die Beziehungen zu den erwachsenen Kindern. Freundschaftliche Beziehungen, gerade zwischen Müttern und Töchtern, hätten dann eine gute Chance, wenn beide Seiten Anteil am Leben der jeweils anderen nähmen – und beide grossen Wert auf die eigene Selbstständigkeit legten.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 11.2.2020, 9 Uhr